In der Debatte um eine mögliche Streichung des ersten Pflegegrades haben Seniorenzentren und Seniorenbeauftragten eine klare Haltung: Ein Wegfall wäre kontraproduktiv.
Wer überhaupt den Pflegegrad der Stufe 1 zur Disposition gestellt hat, ist laut Tagesschau unklar. Plötzlich ist jedenfalls im Gespräch, die schwächste Pflegestufe komplett zu streichen. Davon wären bundesweit etwa 860 000 Menschen betroffen. Die Verunsicherung ist entsprechend hoch.
Unterstützung ohne Pflegefachpersonal
Der Pflegegrad 1 umfasst in der Regel Hilfen im Haushalt und wird ohne Fachpersonal aus dem Pflegebereich erledigt. Hintergrund der Debatte, die auch als Versuchsballon bezeichnet wird, ist zum einen das Defizit der Pflegekasse in Höhe von zwei Milliarden Euro. Zum anderen tagt aktuell eine Arbeitsgruppe, die die Bundesgesundheitsministerin beauftragt hat, Wege für eine Finanzierbarkeit der Pflege aufzuzeigen. In Kürze sollen Ergebnisse vorgelegt werden.
Fachkräfte sollten entlastet werden
Als der Pflegegrad 1 im Jahr 2017 eingeführt wurde, ging es darum, Altenheime und Pflegekräfte zu entlasten. Betroffene sollten länger in den eigenen vier Wänden verbleiben können. Der GKV-Spitzenverband beziffert die Summe der Leistungen unter Pflegegrad 1 im letzten Jahr auf 640 Millionen Euro. Viele Berechtigten würden die ihnen zustehenden Leistungen überhaupt nicht in Anspruch nehmen; bundesweit seien das rund 50 Prozent.
Hilfe an der Schwelle zur Pflegebedürftigkeit
David Grau, Geschäftsführender Vorstand der Sozialstation Wiesental, erläutert zur aktuellen Debatte: „Die Pflegegrad 1 ist vor allem eine Unterstützung an der Schwelle der Pflegebedürftigkeit. Meistens sind die Bezieher der Stufe 1 zwar noch recht mobil, aber in einigen Bereichen schon deutlich eingeschränkt. So ist zum Beispiel ein selbstständiges Versorgen möglich, aber das Bücken fällt so schwer, dass der Haushalt nicht mehr sauber gehalten werden kann.“ Grau weiter: „Hier kommen dann unsere Dienste der Alltagsunterstützung ins Spiel, die im Haushalt für einige Stunden pro Monat mithelfen.“ Abschließend äußert der Vorstand die Befürchtung, die naheliegt: „Sollte der Pflegegrad 1 abgeschafft werden, kann es sein, dass ein Großteil gleich einen Antrag auf Stufe 2 stellt. Die Menschen benötigen ja Unterstützung und werden diese auch beantragen.“
„Sauerei“ und „Ohrfeige für alle Familien“
Eine klare Meinung hat die Seniorenbeauftragte des Kleinen Wiesentals. Melanie Mühlhäuser spricht von einer „Sauerei“ und einer „Ohrfeige für alle Familien“. Mit den 131 Euro im Monat in Pflegegrad 1 könnten so sinnvolle Einrichtungen wie der Hausnotruf, Essen auf Rädern und Alltagsunterstützungen finanziert werden. Alles Angebote, die alten Menschen ein längeres Wohnen in den eigenen vier Wänden ermöglichen und den Übergang in ein Altenheim verzögern.
Seit diesem Jahr sei auch eine Nachbarschaftshilfe über den Pflegegrad 1 finanzierbar, ergänzt Mühlhäuser. Das solle jetzt geopfert werden? Dieser Vorstoß sei in doppelter Weise kontraproduktiv. Die Folge werde sein, dass die Pflegesysteme eher noch stärker belastet werden. Was jetzt noch durch Alltagsunterstützer geleistet werden könne, werde dann künftig auch noch den Pflegefachkräften zufallen. Folge: „Es wird nicht billiger, sondern teurer.“
Wichtig für pflegende Angehörige
Den Blick auf die Angehörigen lenkt Sonja Steiger für die Diakonie: „Pflegegrad 1 ist auch wichtig für pflegende Angehörige. Sie leisten in dieser ersten Phase der Pflegebedürftigkeit in der Regel die notwendige Carearbeit, pflegen oft bis zur eigenen Belastungsgrenze und brauchen die mit dem PG 1 verbundenen Leistungen zur Unterstützung und Entlastung.“
Möglichst langes Leben im eigenen Zuhause
Die Fachbereichsleiterin der Diakonie verweist auf die Kommunale Pflegekonferenz, für die der erste Pflegegrad ein fester Baustein ist: „PG 1 ist auch wichtig, um Ziele der öffentlichen Daseinsvorsorge zu erreichen. Wie in anderen Regionen haben wir auch im Landkreis Lörrach schon jetzt einen Mangel an stationären Pflegeplätzen. Dieser wird in den nächsten Jahren noch zunehmen.“
Steiger weiter: „Menschen sollen auch deshalb möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben und versorgt werden können, das ist eine zentrale Strategie der Kommunalen Pflegekonferenz.“
Es gebe umfangreiche Anstrengungen zum Ausbau notwendiger Beratungs- und Versorgungsstrukturen für pflegebedürftige Menschen im Landkreis Lörrach. Die Abschaffung des PG 1 würde diese Bemühungen schwächen; eine Verschlechterung der ambulanten Versorgungslage wäre zu befürchten.
Der barrierefreie Umbau einer Wohnung beispielsweise könne einige weitere Jahre das Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen und auch den Angehörigen die Pflege erleichtern. Der Entlastungsbeitrag kann einer Nachbarin als Aufwandsentschädigung ausbezahlt werden, wenn diese regelmäßig die Einkäufe übernimmt, für die man selbst nicht mehr genug Kraft oder Beweglichkeit hat. Ihr Fazit: „Bei Wegfall der PG 1 könnten echte Notlagen entstehen.“
Diakonie Deutschland will Erhalt des PG 1
Die Diakonie Deutschland lehnt die Abschaffung des PG 1 ab, weil er Selbständigkeit stärkt und Angehörige entlastet. Sie fordert dagegen eine umfassende Pflegereform, die zu einer verbesserten wirtschaftlichen Absicherung pflegender Angehöriger beiträgt, einen einfacheren und übersichtlicheren Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung ermöglicht und über die eine Pflegevollversicherung mit begrenzter Eigenbeteiligung eingeführt wird.