Links: Künstler Gunter Demnig bereitet die Verlegung des Stolpersteins vor. Rechts: Nach getaner Arbeit in der Bösinger Ziegelstraße: Vorne Künstler Gunter Demnig mit dem Stolperstein im Gehweg, dem Kranz des Bösinger Ortschaftsrats und der Mandoline von Wilhelm Kübler, dahinter (von links) Ortsvorsteher Adolf Gärtner, Stellvertreter Rudi Kaiser, Pfarrerin Dorothee Völkner, Ortschaftsrätin Heide Mast, die Angehörigen Ute Kramer, Irmgard Kramer, Paolo Palmaccio und Irene Kübler sowie Musiker Gerald Martell am Platz des ehemaligen Wohnhauses Kübler. Fotos: Günther Foto: Schwarzwälder Bote

Gedenken: Bösinger Ortschaftsrat erinnert mit erstem Stolperstein im Altkreis Freudenstadt an Euthanasieopfer Wilhelm Kübler

Wilhelm Kübler muss sehr musikalisch gewesen sein. Mit der Mandoline spielte er laut Zeitzeugen an lauen Sommerabenden oft am Bösinger Backhausbrunnen. Seit Samstag erinnert ein Stolperstein mit seinem Namen an den 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Reutlingen Ermordeten.

Pfalz grafenweiler-Bösingen. In der eindrücklichen und sehr gut besuchten Gedenkstunde erinnerte Ortsvorsteher Adolf Gärtner in einer bewegenden Rede an die geschichtlichen Hintergründe des Euthanasieprogramms, das allein in Grafeneck zur Ermordung von mehr als 10 000 geistig behinderten und psychisch kranken Menschen führte. Als psychisch Kranker – Wilhelm Kübler erhielt mit 24 Jahren die Diagnose Schizophrenie – wurde er der damaligen Ideologie entsprechend als "unnützer Esser" und damit als lebensunwert eingestuft.

Mit nachdenklichen und eindringlichen Worten sprach sich Ortsvorsteher Adolf Gärtner vehement gegen jegliches Gedankengut aus, das Menschen mit Behinderungen und Krankheiten nach den "volkswirtschaftlichen Verlusten durch nicht genutzte Erwerbspotenziale" beurteilt und forderte unmissverständlich: "Kein Mensch darf Nützlichkeitserwägungen unterworfen werden – nie mehr." Deshalb solle, so Gärtner, mit der Gedenkstunde "all der deportierten, vergasten, erschossenen, gehenkten und zu Tode gefolterten Menschen erinnert werden".

Für den Impuls zur Stolpersteinverlegung dankte der Ortsvorsteher Matthias Kaiser. Dieser hatte am Volkstrauertag 2018 den Ortschaftsrat daran erinnert, dass beim Gedenken an die Bösinger Opfer beider Weltkriege eine Person, das Euthanasieopfer Wilhelm Kübler, vergessen worden sei. Dieser Hinweis führte dazu, dass in Bösingen nun ein Stolperstein an Kübler erinnert.

Ortsvorsteher-Stellvertreter Rudi Kaiser, der gemeinsam mit Ortschaftsrätin Heide Mast die Daten zusammengetragen und die Gedenkstunde organisiert hatte, ging auf den Lebenslauf Küblers ein. Wilhelm Kübler wurde 1908 in Oberschwandorf geboren. Er erlernte den Beruf des Eisengießers. Gemeinsam mit ihren drei Kindern lebten seine Eltern Maria und Johannes Kübler seit 1928 in Bösingen im Haus der Großeltern in der Ziegelstraße 27. Im Jahr 1932 wurde bei Wilhelm die Diagnose Schizophrenie gestellt. Vier Jahre später wurde er, zusammen mit 20 weiteren Personen, in die psychiatrische Anstalt Weißenau bei Ravensburg gebracht und drei Jahre später nach Zwiefalten verlegt. Im Rahmen der "Aktion T4" wurde Kübler am 15. Dezember 1940 im Alter von nur 32 Jahren in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet.

Den Opfern von Euthanasie und Verfolgung ihre Namen und ihre Würde zurückzugeben, hat sich der Bildhauer und Künstler Gunter Demnig zur Lebensaufgabe gemacht. Der "Vater der Stolpersteinaktion" begann 1995, am jeweils letzten selbst gewählten Wohnort der Opfer Pflastersteine mit den Lebensdaten der Ermordeten, Deportierten oder durch die NS-Politik in die Flucht Getriebenen in die Gehwege einzusetzen. Inzwischen hat Demnig mehr als 77 000 Stolpersteine verlegt, in 26 Ländern in Europa und in 1300 Kommunen. Alle Steine zusammen bilden ein dezentrales Kunstwerk, zu dem nun auch die Gemeinde Bösingen gehört.

Demnig, der eigens zur Stolpersteinverlegung nach Bösingen angereist war, ging in seiner Ansprache und in dem von Heide Mast geführten Interview auf sein Lebenswerk ein. Grundlage seiner 96 mal 96 mal 100 Millimeter großen Pflastersteine ist eine Messingplatte, die von Hand mit dem Hammer und Schlagbuchstaben mit den Opferdaten beschriftet und anschließend mit Beton hintergossen wird.

Diese Pflastersteine werden niveaugleich in das Pflaster oder den Belag des Gehwegs eingelassen. Deshalb stolpert man nicht wirklich, sondern "mit dem Kopf und mit dem Herzen", wie der Künstler beobachtet hat. Demnig beschreibt auch einen bedeutsamen Nebeneffekt: "Wenn du den Text lesen willst, machst du automatisch eine Verbeugung." Bei seinen Stolpersteinen ist dem Künstler wichtig, den Blick weg von den schrecklichen Zahlen hin zu Einzelschicksalen zu lenken.

Mit seinen auf dem Akkordeon gespielten wehklagenden und zugleich wohltönenden Variationen zu "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus" gelang es auch Musiker Gerd Martell, den Fokus musikalisch auf Wilhelm Küblers Einzelschicksal zu legen. Auch Pfarrerin Dorothee Völkner aus Neubulach ging in ihrer Andacht auf die Funktion von Stolpersteinen ein und anerkannte: "Sich einen Stolperstein in den Ort zu legen, das ist mutig." Zumal dies der erste Stolperstein im Altkreis Freudenstadt ist.

Als nächste Familienangehörige erinnerte Großnichte Irene Kübler an die Lebensgeschichte ihres Großonkels, über die sie durch das "Weiße Buch" der Gedenkstätte Grafeneck Näheres erfahren hatte. Zur Freude der zahlreichen Besucher hatte sie Wilhelm Küblers Mandoline mitgebracht.

Vor Wilhelm Küblers letztem selbst gewählten Wohnort, dem Haus in der Ziegelstraße 27, legte Ortsvorsteher Gärtner einen Kranz ab. Auch Küblers angeheiratete Nichte und Großnichte, Irmgard und Ute Kramer – letztere lebt gemeinsam mit Ehemann Paolo Palmaccio an Ort und Stelle – nahmen an der Feierstunde teil. Über Wilhelm Kübler sei in der Familie nie gesprochen worden, auch habe es nie ein Foto gegeben, berichtete die Nichte.

An die zahlreichen Opfer des Euthanasieprogramms erinnerte auch Geschichtsforscher Gabriel Stängle, der zusammen mit Schulklassen der Realschule Nagold das Schicksal der rund 130 Euthanasieopfer im Kreis Calw und das der etwa 75 im Kreis Freudenstadt erforscht.