Bildungsminister Andreas Stoch (SPD) will die Diskussion über den Bildungsplan versachlichen. Foto: dpa

Ein Ziel hat Gabriel Stängle erreicht. Bis zum 27. Januar wollte der Realschullehrer aus dem Schwarzwald im Internet 100.000 Unterschriften gegen den künftigen Bildungsplan für die Schulen im Land sammeln, inzwischen hat er fast doppelt so viele erhalten.

Ein Ziel hat Gabriel Stängle erreicht. Bis zum 27. Januar wollte der Realschullehrer aus dem Schwarzwald im Internet 100.000 Unterschriften gegen den künftigen Bildungsplan für die Schulen im Land sammeln, inzwischen hat er fast doppelt so viele erhalten.

Stuttgart - Den einen gilt Gabriel Stängle als Held, den anderen als Hetzer. Seit einigen Wochen steht der 41-Jährige aus dem Kreis Calw bundesweit im Rampenlicht. Sogar das Internetlexikon Wikipedia hat dem Lehrer, der an einer Realschule in Nagold unterrichtet, einen eigenen Artikel gewidmet.

Stängle ist angetreten, die „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“ zu stoppen, die seiner Ansicht nach an den Schulen im Südwesten durch den Bildungsplan 2015 droht. Unter dem Titel „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ will er verhindern, dass in den Schulen künftig mehr über Homosexualität gesprochen wird. Lesben, Schwule und andere Lobbygruppen wollten „die Thematisierung verschiedener Sexualpraktiken in der Schule als neue Normalität propagieren“. Eine „ethische Reflexion der negativen Begleiterscheinungen ihres Lebensstils“, etwa eine höhere Suizidgefährdung, eine größere Anfälligkeit für Alkohol und Drogen oder eine höhere HIV-Infektionsrate, fehle jedoch, schreibt Stängle auf der Internetplattform Openpetition.

Den Bildungsplan 2015 gibt es allerdings noch gar nicht. Derzeit diskutieren mehr als 230 Lehrer in 40 Fachkommissionen darüber, was Schüler brauchen, um ihr Leben meistern zu können. Beraten werden sie von einem 45-köpfigen Beirat, dem Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen – darunter auch der CDU- und der FDP-Landtagsfraktionen sowie der Kirchen – angehören. An sie schickte das Kultusministerium im November ein Arbeitspapier mit Vorschlägen, wie fünf neue Leitprinzipien – berufliche Orientierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Medienbildung, Prävention und Gesundheitsförderung sowie Verbraucherbildung – in verschiedenen Fächern umgesetzt werden könnten. Unter jedem Leitprinzip folgten auch Empfehlungen zum Thema „Akzeptanz sexueller Vielfalt“. So sollen Schüler beispielsweise lernen, dass es neben der klassischen Familie auch „Regenbogenfamilien, Single, Paarbeziehung, Patchwork-Familien, Ein-Eltern-Familien, Großfamilien, Wahlfamilien ohne verwandtschaftliche Bande“ gibt. Wenige Tage später warnte Stängle auf Openpetition vor einer „kompletten sexualpädagogischen Umerziehung“, die Lehrer zu „Toleranzaposteln für den Schwulen-, Lesben- Bi- und Transsexuellen-, Transgender- und Queer-Lebensstil“ mache.

Kultusminister Andreas Stoch wirft Stängle vor, er zeichne Zerrbilder und schüre Ängste. „Es geht um Weltoffenheit, Toleranz und Respekt vor jedem Menschen und seiner Würde, damit sich niemand diskriminiert fühlt oder verstecken muss“, so der SPD-Politiker. „Wenn ich akzeptiere, dass es andere Lebensformen gibt, stelle ich die Institutionen Familie und Ehe keineswegs infrage.“

Rund 177.000 Unterschriften verzeichnete die Petition am Sonntagabend. Wie viele Unterzeichner es tatsächlich sind, lässt sich nicht genau sagen. Auf der Unterschriftenliste im Internet fallen immer wieder doppelte Nennungen auf – vereinzelt auch Scherznamen. Unter den Unterzeichnern aus Stuttgart ist beispielsweise „Winfried Kretschmann“ zu finden. Ob in der Landeshauptstadt ein Namensvetter des Regierungschefs lebt, darf das Einwohnermeldeamt nicht sagen, im Staatsministerium weiß man nichts von einem solchen. Klar ist aber: Ministerpräsident Kretschmann hat die Petition nicht unterschrieben, sie vielmehr angegriffen. Mit der Behauptung von „Umerziehung“ rücke Stängle das Land in die Nähe von Diktaturen und erschwere die Diskussion über ein sensibles Thema, sagt der ehemalige Ethiklehrer.

Größte Medienaufmerksamkeit erhalten

Mehrere Tausend Unterschriften haben die Betreiber der Plattform gelöscht. „Wir haben festgestellt, dass versucht wurde, automatisch Unterschriften zu generieren – das ist unter anderem erkennbar an der IP-Adresse“, sagt Fritz Schadow, Pressesprecher von Openpetition. Doppelte Unterschriften müssten aber manuell entfernt werden. Das bringt das Zwei-Mann-Unternehmen mitunter an die Grenzen.

Stängles Petition ist eine der größten in der vierjährigen Firmengeschichte. In jedem Fall aber diejenige, die die größte Medienaufmerksamkeit erhalten hat und am emotionalsten geführt wurde. Zunächst fand sie kaum Beachtung. Erst Medienberichte und kurz darauf die Erklärung von Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, dass er schwul sei, feuerten die Diskussion an. Unterstützung kam vor allem aus evangelikalen Kreisen und von Political Incorrect, einer rechtspopulistischen Internetplattform, die regelmäßig gegen Minderheiten aufstachelt.

„Sowohl die erste Fassung der Petition als auch Kommentare wurden gelöscht, weil sie diskriminierend und aufhetzend waren und damit gegen die Nutzungsbedingungen verstießen“, sagt Schadow. Um die Hürden für Beteiligung zu senken, gehen Petitionen und Kommentare sofort online. Internetnutzer haben die Möglichkeit, unangemessene Beiträge zu melden. Diese werden dann überprüft und gegebenenfalls gelöscht. „Wegen vieler Grenzüberschreitungen sahen wir uns auch gezwungen, die Kommentarfunktion für Unterzeichner abzuschalten. Wir konnten nicht mehr sicherstellen, dass diskriminierende und menschenverachtende Kommentare schnell gelöscht werden“, so Schadow.

Auch Befürworter von mehr Aufklärung sind längst aktiv geworden. Eine Gegenpetition auf Openpetition haben knapp 85.000 Menschen unterschrieben, eine zweite auf Campact.de mehr als 134.000.

Auch unter den Lehrern rumorte es

Die Diskussion kochte nicht nur im Internet, sondern auch in der Öffentlichkeit hoch. Die Evangelische Landeskirche in Baden unterstütze die Petition, frohlockten Unterstützer Stängles, wenig später folgte eine Distanzierung. Auch die evangelischen und die katholischen Bischöfe erklärten nach einem Gespräch mit Kretschmann, es gebe „keine Differenz in der Zielsetzung, in den Schulen ein Umfeld für Offenheit und gegenseitigen Respekt zu schaffen“. Die Evangelische Lehrer- und Erziehergemeinschaft in Württemberg sagte kurzfristig eine Tagung mit der umstrittenen Kinder- und Jugendmedizinerin Christl Vonholdt ab, die Homosexualität für ein „emotionales Problem“ und „süchtiges Verhalten“ hält. Am vergangenen Mittwoch stritten sich Regierung und Opposition im Landtag über den künftigen Bildungsplan.

Auch unter den Lehrern rumorte es. Der Realschullehrerverband distanzierte sich ausdrücklich von der Petition, kurz darauf gab Stängle, der dort Referent für Erziehung, Bildung und Schulpolitik war, das Amt auf. In der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowieso – von ihr stammen die Vorschläge für den Bildungsplan. In Arbeitskreisen der GEW machen sich schwule und lesbische Pädagogen schon seit längerem Gedanken darüber, wie in Kollegien und bei Schülern Vorurteile gegen Homosexuelle abgebaut werden können – immerhin zählt „schwule Sau“ zu den beliebtesten Schimpfwörtern auf Schulhöfen. Auch der Landeselternbeirat und der Landesschülerbeirat kritisierten Stängles Petition.

Was Stängle mit den Unterschriften vorhat, ist nicht bekannt. Viele der Petitionen an den Landtag kommen per Post, manche – wie zuletzt die der Mountainbiker – werden publikumswirksam übergeben. Bisher gebe es keine Anfrage für einen Termin, sagte ein Sprecher des Landtags am Freitag. Ob eine Petition angenommen wird – und gegebenenfalls erfolgreich ist, hängt nicht von der Zahl der Unterschriften ab.