Wer als Kind zum Beispiel verlassen wurde, schleppt diese Angst vielleicht ein Leben lang mit sich herum. Mit fatalen Folgen. Wie Erwachsene damit umgehen können.
Wie viel Freiheit gestehen wir uns gegenseitig zu? Wie viel Achtung und Respekt bringen wir uns entgegen? Wer gibt den Ton an, wer passt sich an? Das sind Themen, die jedes Paar für sich ausbalancieren muss.
Doch wenn die Auseinandersetzungen um solche Themen so emotional werden, dass sie irgendwann nicht mehr lösbar erscheinen, mischt das sogenannte innere Kind kräftig mit. Das innere Kind ist ein Sinnbild für individuelle Erlebnisse aus der Kindheit, die jeden Menschen stark prägen.
Ein Beispiel: Eine Frau leidet darunter, dass ihr Mann immer mal wieder beruflich für zwei, drei Tage unterwegs ist. Die Mutter zweier Kinder hat dann das Gefühl, allein zurückgelassen zu werden. Das macht ihr Angst. Sie versucht, ihren Mann zu halten.
„Du lässt mich allein, du kümmerst dich zu wenig um die Kinder, du übernimmst zu Hause zu wenig Verantwortung“, so lauten ihre Vorwürfe. Er aber will sich in seiner beruflichen Entwicklung nicht blockieren lassen. Deshalb rechtfertigt er sich, zieht sich zurück und verschweigt ihr, dass er bald wieder verreisen wird.
Der Konflikt eskaliert in stundenlangen Streitereien. Allmählich drängt sich den beiden die Frage auf: Sollen wir noch zusammenbleiben oder nicht? Auf dem Spiel steht ein gemeinsames Leben mit zwei Kindern.
„Erst wenn man genauer in die Kindheit der Erwachsenen schaut, lässt sich erkennen, wo die Streitursachen liegen“, sagt Roland Kachler, Psychotherapeut aus Remseck-Aldingen. „Bleibt man bei diesem Beispiel, könnte in der Frau ein Mädchen stecken, das vom Vater verlassen wurde, als es zwei Jahre alt war.
Er dagegen hatte eventuell eine depressive Mutter, die versucht hat, ihn als kleinen Seelsorger zu gewinnen und an sich zu binden.“ Das innere Kind der Frau leidet noch heute unter der Trennung vom Vater und sehnt sich nach Verlässlichkeit, Sicherheit, Bindung und Nähe. Sein inneres Kind dagegen braucht Autonomie und Freiheit.
Wenn ihr Mann beruflich verreist, fühlt die Frau sich wie damals, als der Vater sie verließ. Und wenn er seine Unabhängigkeit bedroht sieht, fühlt er sich wie damals, als er versuchte, seine depressive Mutter aufzumuntern, statt mit den Kumpeln abzuhängen. In allen Partnerschaften entpuppen sich nach der Verliebtheitsphase die jeweiligen Kindheitsthemen.
„Gefährlich für die Partnerschaft wird es, wenn das innere Kind die Führung übernimmt. Denn es setzt sich immer mit kindlichen Methoden für Bedürfnisse ein – mit Schreien und Schmollen, Lügen und Leugnen, Vorwürfen und Unterstellungen“, sagt Roland Kachler.
„Die kindlichen Methoden sind die Ursache dafür, dass das Kind genau das nicht bekommt, was es bekommen will.“ Dann erscheint manchem Fremdgehen als Option, in der Hoffnung, dort das zu bekommen, was dem inneren Kind fehlt.
Aussichtslose Verstrickungen? „Nein“, so der Psychotherapeut. „Es besteht durchaus die Möglichkeit, sein eigenes verletztes inneres Kind zu beruhigen, um sich dann selbst ganz erwachsen mit dem Partner auseinanderzusetzen.“ Drei Schritte sind dafür notwendig.
1. Schritt: Gefühle und Bedürfnisse bewusst machen
Welche belastenden Gefühle tauchen in der Beziehung auf, die ich aus meiner Kindheit kenne? Sich diese Frage zu stellen ist wichtig. Denn die Gefühle, die heute scheinbar unangemessen aufflackern, weisen auf das hin, was in der Kindheit zu kurz kam.
Hinter den aufbrausenden Gefühlen stecken also wichtige Bedürfnisse wie zum Beispiel der Wunsch nach Wertschätzung, Sicherheit, Zugehörigkeit und Weiterentwicklung. Manchmal helfen Fotos aus der Kindheit, sich an diese frühen Gefühle und Bedürfnisse zu erinnern.
2. Schritt: Situationen bewusst machen
So lange hat man erbittert gestritten – doch ging es wirklich darum, wie am besten eine Spülmaschine einzuräumen ist? Wenn der Streit über Kleinigkeiten wie diese hochkocht, hat womöglich wieder das innere Kind die Führung übernommen. In welchen Situationen passiert das noch? Diese Frage regt an nachzuvollziehen, was eigentlich hinter den Streitereien steckt – wonach sich das innere Kind im Streit eigentlich sehnt.
3. Schritt: Verantwortung übernehmen
Das innere Kind kann mit seinen Methoden wie Provozieren und Herumschreien Konflikte nicht lösen – im Gegenteil, es richtet noch größeren Schaden an. Roland Kachler rät deshalb, Worte wie diese an das innere Kind zu richten – zum Beispiel in einem Brief: „Ich erlaube dir nicht mehr zu toben und zu schmollen. Es ist nicht nötig. Ich kümmere mich von nun an mit erwachsenen Methoden um deine Bedürfnisse.“ So wird das innere Kind entlastet.
An die Stelle der destruktiven kindlichen Methoden können dann konstruktive Strategien treten. Dazu gehört zum Beispiel, dem Partner oder der Partnerin ruhig und gelassen eigene Gefühle und Bedürfnisse mitzuteilen. „Ich fühle mich oft alleine und brauche Verlässlichkeit“, so kann das klingen. Genauso wichtig ist es, dem Gegenüber zuzuhören und seine Gefühle und Bedürfnisse zu respektieren.
Und wenn das Gespräch doch wieder zu emotional wird? „Dann ist es wichtig, die Notbremse zu ziehen“, so Roland Kachler. Und die heißt: „Stopp! Wir kommen jetzt nicht weiter. Wir reden zu einem anderen Zeitpunkt weiter, wenn wir uns wieder emotional abgekühlt haben.“ Am besten außerhalb des Hauses, zum Beispiel bei einem Spaziergang, lässt sich dann gemeinsam überlegen, worum es eigentlich geht.
Forderungen setzen dabei den Partner oder die Partnerin unter Druck. Sie lassen sich durch Wünsche ersetzen, die dem Gegenüber die Freiheit geben einzuwilligen oder abzulehnen. Denn erst die Freiwilligkeit bringt Glanz in die Partnerschaft. Dann könnte der Mann sagen: „Ich möchte dir deinen Wunsch nach Verlässlichkeit erfüllen. Deshalb sorge ich dafür, dass ich nur zweimal im Monat beruflich für zwei Tage unterwegs bin.“ Und sie könnte signalisieren: „Ich unterstütze dich bei deinen beruflichen Plänen, solange du nicht länger als diese vereinbarte Zeit weg bist.“