Die Situation in der Ortenauer Kinder- und Jugendpsychiatrie ist während der Pandemie eskaliert. Die Folgen sind bis heute zu spüren. Noch immer ist die Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg wegen des gestiegenen Behandlungsbedarfs völlig ausgelastet.
„Im Moment ist in der Lindenhöhe im Vergleich zu letztem Jahr etwas weniger los“, berichtet Reta Pelz, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Mediclin-Klinik an der Lindenhöhe in Offenburg. Dennoch sei die Klinik voll ausgelastet.
Die „Lindenhöhe“ ist die einzige Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik in der Ortenau. Erst nach Wartezeit kommt es dort derzeit zur Behandlung. Notfälle werden jedoch sofort gesehen oder aufgenommen. Für dringende Fälle gibt es fünf Betten im Akutbereich.
„Von der Pandemie und vor allem den Eindämmungsmaßnahmen ging ein hohes Belastungspotenzial aus“, erklärt Pelz mit Rückblick auf die Pandemie-Jahre. Momentan sei die Belastung immer noch hoch, aber rückläufig, dennoch durchgehend über den Werten vor der Pandemie.
Psychiatrie stockt Betten wegen Mehrbedarf auf
„Im Jahr wurden circa stationär 100 Patienten mehr behandelt, ambulant sind es 1000 Patienten pro Jahr mehr“, erläutert Pelz. Als Reaktion auf die gestiegenen Fallzahlen stockte die Lindenhöhe die Anzahl vollstationärer Betten von 25 auf 33 auf. Die 25 tagesklinischen Betten wurden von 20 auf 25 erhöht. Zudem gibt es acht bis zehn Betten für Anorexiepatienten.
„Mittlerweile haben die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit abgenommen“, berichtet Pelz. Kinder- und Jugendliche machten sich weniger Sorgen. Aber es sind neue Belastungen hinzugekommen: Ukraine-Krieg, Inflation sowie Energie- und Klimakrise stellen derzeit psychische Belastungen dar.
Schon vor Corona zeichnete sich ab, dass Behandlungszahlen steigen
Der sogenannten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge äußern 32 bis 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen Ängste und Zukunftssorgen. „Die Pandemie ist wie ein Brennglas gewesen. Es gibt Hilfe. Aber es muss etwas passieren. Es ist ein Unding, Monate zu warten. Es sollte keine Stigmatisierung stattfinden. Niemand sucht sich das aus“, gab Pelz zu verstehen.
Der „Copsy-Studie“ zufolge zeichnete sich schon vor Corona ein erheblicher Anstieg an psychotherapeutischen Behandlungen ab, jedes fünfte Kind war von psychischen Problemen betroffen. Über die Pandemie erkrankten bis zu 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch, also fast jedes dritte Kind. Derzeit leidet immer noch jedes vierte Kind unter psychischen Auffälligkeiten wie Hyperaktivität.
„Bereits vor der Pandemie waren die Behandlungskapazitäten größtenteils ausgelastet, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich“, erklärt Pelz. „Regional bestanden teilweise auch zu lange Wartezeiten bei niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.“
Während der Pandemie stieg die Zahl der Notfälle
Die Notfallinanspruchnahme stieg während der Pandemie um bis zu 30 Prozent an. „Während der Pandemie waren die Betten durchgängig voll belegt, teilweise überbelegt, so dass in Notfallsituationen aufgrund von Platzmangel Patienten zum Teil an Nachbarkliniken abgegeben werden mussten“, berichtet Pelz. Weiterhin ist der Bedarf an stationärer Versorgung hoch, die Wartezeiten für elektive Aufnahmen lang.
Zudem nahm die Schwere der Erkrankung zu. Zwangserkrankungen traten vermehrt auf. Nach der „Copsy-Studie“ waren depressive Angsterkrankungen (25 Prozent Zunahme) und Magersucht (40 Prozent Zunahme) häufiger anzutreffen. In den Jahren 2019 bis 2021 nahmen Essstörungen bei Jugendlichen um 54 Prozent zu. „Es waren sehr schlechte körperliche Zustände vorzufinden“, erklärt Pelz.
Mehr Suchterkrankungen treten auf
Mehr Patienten entwickelten eine Substanzabhängigkeit – etwa nach Alkohol, Tabak, Drogen oder Medikamente – als noch vor der Pandemie. Vor allem aber substanzungebundene Abhängigkeiten – Medien, Computer, Social Media – nahmen zu. Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen berichteten von einer Zunahme ihres Medienkonsums, insbesondere von Social Media. Laut „Copsy-Studie“ treibt zudem ein Fünftel der Kinder keinen Sport und ein Drittel isst mehr Süßigkeiten als noch vor der Pandemie.
Schule und Kitas geschlossen, Spielplätze abgesperrt, Sportvereine zu – in der Pandemie fehlte es jüngeren Kindern an sozialer Interaktion, berichtet Pelz. Zwischenzeitlich werden bereits sehr junge Kinder mit Entwicklungsstörungen oder dem Verdacht auf Autismus vorgestellt. „Die Pandemie stellte eine Lücke in der üblichen Sozialisierung dar. Es fehlte vor allem der Kontakt zu anderen Kindern. Insbesondere die Eindämmungsmaßnahmen bereiteten Probleme.“ Für ein Kind seien die vergangenen vier Jahre eine lange Zeit im Vergleich zu ihrer Lebenszeit.
Psychiatrisches Angebot
Neben der stationären Aufnahme wird Patienten in den psychiatrischen Institutionsambulanzen in Offenburg auch eine Behandlung unter Einbeziehung der Familien, Schulen und Freunde geboten. Einerseits wird dort diagnostiziert, andererseits behandelt, beraten, therapiert und Termine vergeben. Die Weiterbehandlung findet dann zum Teil in den Tageskliniken statt. Dort gibt es ein intensiveres Angebot von 8 bis 16 Uhr, unter anderem auch eine Klinikschule.