Macht den Papst zu ihrem Fürsprecher: Linke-Fraktionsvize Wagenknecht im Bundestag. Foto: dpa

Erste Sitzung des Bundestags mit der neuen Regierung – das ist die Arena für den ersten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Oder dem, was von der Opposition übrig ist.

Erste Sitzung des Bundestags mit der neuen Regierung – das ist die Arena für den ersten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Oder dem, was von der Opposition übrig ist.

Berlin - „Unser Ziel ist ein gestärktes Europa“, sagt die Kanzlerin in der ersten Regierungserklärung ihrer dritten Amtszeit. Wer will ihr da widersprechen? Vor ihr sitzen so viele Abgeordnete wie noch nie in dem Hohen Haus, die ihren Kurs mitzutragen haben. Und der Platz für die Opposition ist geradezu mickrig klein. Da ist es schwer für Katrin Göring-Eckardt und Sahra Wagenknecht, pflichtgemäß gegenzuhalten.

Göring-Eckardt, neben Anton Hofreiter Grünen-Fraktionschefin, geht mit einem orangefarbenen Textmarker über das vor ihr liegende Manuskript. Sahra Wagenknecht, Vizechefin der Linken-Fraktion, sitzt kerzengrade auf ihrem Platz wie vor einer schweren Prüfung. Gleich darf sich die Lebensgefährtin von Oskar Lafontaine als die Oppositionsführerin des Tages präsentieren.

Aber gibt es sie überhaupt – „die Opposition“. Denn Linke und Grüne gehen getrennte Wege. Wagenknecht wirft Merkel vor, durch europäische Sparvorgaben mitverantwortlich zu sein für soziales Elend in den Krisenstaaten. „Das ist nicht christlich, das ist unmenschlich und brutal.“ Sogar der Papst muss herhalten, wenn eine Opposition zusammen gerade mal 20 Prozent der Sitze im Bundestag belegt. „Franziskus erinnert daran, was wirklich sozial ist“, sagt Wagenknecht in elegantem Grau. „Die Linke nimmt die Papst-Botschaft ernst.“ An dieser Stelle verzeichnet das Protokoll Heiterkeit.

Linke droht mit Klage

Die SPD verspiele an der Seite der Union das Erbe Willy Brandts, ruft Wagenknecht in die SPD-Reihen – ausgerechnet am 100. Geburtstag des sozialdemokratischen Übervaters. Sigmar Gabriel hört da demonstrativ weg. Der SPD-Chef tippt und tippt in sein Vizekanzler-Handy, sucht dann das Gespräch mit Merkel und schenkt wie die Regierungschefin Wagenknecht kein Ohr mehr. Als die fertig ist, applaudieren die Linken nach Kräften. Bei den Grünen erhebt sich keine Hand.

Umgekehrt wird es nachher genauso sein. Nicht nur, weil Göring-Eckardt einen anderen Schwerpunkt legt. Sie verlangt mehr Offenheit gegenüber Flüchtlingen, fordert energisches Eintreten für Menschenrechte, ruft die Regierung zu deutlichen Worten und Taten gegenüber Russland auf. Hin und wieder ahnt sie die Zustimmung aus den schwarz-roten Reihen, Beifall von den Linken kommt nicht.

Danach ist die Opposition nicht mehr gefragt. Noch immer ist nicht entschieden, wie ihre Minderheitsrechte in den kommenden vier Jahren gesichert werden sollen. Die Linksfraktion besteht auf einer Grundgesetzänderung. Nur so könne die Möglichkeit von Normenkontrollverfahren zur Überprüfung von Bundesgesetzen gewährleistet bleiben, sagt Fraktionschef Gregor Gysi: „Ich hoffe noch, dass Union und SPD uns entgegenkommen. Wenn nicht, prüfen wir sehr energisch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht.“

Die eigentlichen Chefs liegen noch in Lauerstellung

Einem Normenkontrollverfahren müssen laut Grundgesetz 25 Prozent der Abgeordneten zustimmen. Was aber, wenn die Opposition aus Linken und Grünen nur noch schlappe 20 Prozent im Bundestag hat? Bisher haben sich Union, SPD und Linke lediglich auf eine Verlängerung der Redezeiten für die Opposition um ein paar Minuten geeinigt. Die Grünen halten diesen Kompromiss nicht für ausreichend.

Wagenknecht und Göring-Eckardt also. Sie dürfen erstmals gegen Merkel antreten. Eine gute Wahl, gewiss. Aber die zweite. Die eigentlichen Chefs liegen noch in Lauerstellung. Wer wird der frechere, einflussreichere Oppositionsführer sein? Gysi oder doch der Grüne Anton Hofreiter?

Wenn sie nebeneinanderstehen, nehmen sie sich drollig aus: hier der kleine Halbglatzen-Quirl mit der runden Brille, dort der wuchtige Klotz mit den langen blonden Strähnen überm Sakkokragen. Filme könnte man mit dem Duo besetzen.

Gysis Welt: Er sieht die Zukunft rosarot

„Opposition ist Mist“, hat Franz Müntefering, der frühere SPD-Chef, einmal behauptet. Für Gysi und Hofreiter aber ist Opposition gegen eine nie gekannte Übermacht eine Chance. Gysi als Merkel-Herausforderer? „In die Psychiatrie“ hätte man ihn geschickt, hätte er 1990 prophezeit, dass die Linken 23 Jahre später die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag stellen, sagt er. Jetzt sind sie es. Vielleicht werden die Unionsabgeordneten mit ihrer steten Übung nun aufhören, den Saal zu verlassen, wenn Gysi ans Pult tritt.

Viel Zeit wird Gysi, der kleine Chef einer noch kleineren Opposition, nicht bekommen, um Schwarz-Rot zu kritisieren. Doch es scheint ihm nicht viel auszumachen. Er weiß um seine rhetorische Strahlkraft. „In gewisser Weise wertet die Übermacht der Großen Koalition die Opposition auf“, sagt er selbstbewusst. Stimmt! In den Berichten aus dem Bundestag wird die Opposition sicher breiteren Raum finden, als es dem Kräfteverhältnis im Parlament entspricht.

Gysi setzt ohnehin auf andere Mechanismen. Er weiß, dass sich die öffentliche Meinung vor allem außerhalb des Bundestags bildet: in Talkshows, Interviews, geschickt gesetzten Aktionen und Formulierungen. Gysis Welt. Er sieht die Zukunft rosarot. War es nicht immer so, dass Große Koalitionen gute Zeiten für die kleinen Parteien waren?

Hofreiter muss raus aus Gysis Bugwelle

Das muss Hofreiter trösten. Nicht dass er so aussähe, als sei er des Trostes bedürftig. Aber ein Problem hat er schon. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte sieht sich eine Bundesregierung ausschließlich einer linken Opposition gegenüber – wenn man die Grünen noch als linke Partei betrachtet. Was Hofreiter zweifelsohne tut. Aber er muss sich abheben. Das Hohelied der Umverteilung, Gysi wird es in allen Tonlagen zu singen wissen. Hofreiter hätte kein Problem, da einzustimmen. Im Prinzip. Er gehörte schon 2010 zu den Unterzeichnern eines Aufrufs mit dem Titel „Das Leben wird bunter“, in dem sich Linke, Sozialdemokraten und Grüne über „parlamentarische Mehrheiten jenseits von Union und FDP“ ausließen. Hofreiter träumt noch immer von einer rot-rot-grünen Mehrheit. Erst recht, da sich in Hessen gerade Unfassbares ereignet und die Grabenkämpfer von CDU und Grünen eine Regierung schmieden.

Doch selbst wenn die rot-rot-grüne Option mehr im Trend läge, Hofreiter müsste heraus aus Gysis Bugwelle. Als Schattenmann, der die Linksthesen nur aufwärmt, wird ihm ein tristes Dasein drohen. Das Gysi-Double darf er nicht geben. Zumal die Grünen ja alles offenhalten. Das macht das Leben des grünen Fraktionschefs nicht leichter. Er muss von links und von rechts angreifen – und obendrein den Unterschied zu den Linken markieren. Viele sind an weniger schweren Aufgaben gescheitert.

Hofreiter hat in ersten Ansätzen aufgezeigt, wie er sich das vorgestellt hat. Nachhaltigkeit – das soll der grüne Hebel sein. Wer Mütterrenten aus der Rentenkasse und nicht aus dem Steuertopf finanziert, „verfrühstückt unsere Zukunft“, schimpft er. Wenn „die Großkonzerne-CDU sich mit der Kohlekraft-SPD“ einigt, würden die Grünen ihre Stimme erheben. Und die Bürgerrechte? Auch sie sollen Markenzeichen werden – FDP-Erbmasse.

Ironischer Applaus für Merkel

Hofreiter glaubt, ausreichend Distanz zur Linken halten zu können. Auffallend oft hat er zuletzt die Konkurrenz auf der Oppositionsbank attackiert. Sie müsse „ihr Verhältnis zu Israel klären“, müsse verdeutlichen, ob sie für Blauhelm-Einsätze ist, müsse aufhören, mit „unsolidarischen und unverantwortlichen“ Äußerungen zur Europapolitik. Theoretisch kann man das alles durchhalten. Aber klar ist auch: Hofreiter muss wesentlich mehr Bälle gleichzeitig in der Luft halten als Gysi. Auf offener Bühne.

Hinter den Kulissen wollen Gysi und Hofreiter für die gemeinsame linke Zukunft arbeiten. Wenigstens als Option. Gysi weiß, dass die Öffentlichkeit nun auf die größere der beiden Oppositionsparteien genauer schaut. Deshalb ist ihm jeder willkommen, der eine realistischere politische Arbeit und weniger Sektierertum in Partei und Fraktion befördern will. Gerade hat sich der Berliner Abgeordnete Stefan Liebich zum Sprecher der parteiinternen Reformgruppe „Forum Demokratischer Sozialismus“ wählen lassen. Es gibt zudem den parteiübergreifenden Gesprächskreis R2G – was für Rot-Rot-Grün steht. Sie hoffen eben noch immer, die Gysis und Hofreiters, dass sich die SPD irgendwann noch eines anderen besinnt. Viele bei den Grünen halten das für Träumerei. Manche in der SPD für einen Albtraum.

Union und SPD jedenfalls demonstrieren zum Start Zufriedenheit mit sich selbst – auch wenn Merkel schelmisch einräumt, noch ein bisschen üben zu müssen. Denn für einen Moment kann sie sich bei ihrer Regierungserklärung nicht entscheiden: Ist SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel nun „Bundeswirtschafts- und Energieminister“ oder „Bundesenergie- und Wirtschaftsminister“?

Die Linken haben da allenfalls ironischen Applaus für Merkel übrig („Das ist keine Koalition der großen Aufgaben, sondern der großen Ignoranz“, ruft Wagenknecht), während Claudia Roth von den Grünen Merkel ehrlichen Beifall zollt, als diese die Wahrung der Grundrechte in der Ukraine anmahnt.

Auch Opposition will eben gelernt sein.