Findet die Menschen in Stuttgart „extrem offen und neugierig“: Jossi Wieler. Foto: dapd

Opernintendant Jossi Wieler spricht über den Spielzeit-Auftakt, 100 Jahre Geschichte und die aufgeschobene Sanierung an seinem Haus.

Stuttgart - An diesem Wochenende beginnt in Stuttgart die neue Opernsaison mit „Don Giovanni“ am Freitag, einer Spielzeitpräsentation am Samstag und einem „Jahrhundertkonzert“ zum Opernhaus-Jubiläum am Sonntag. Ein Gespräch mit dem Intendanten.

Herr Wieler, was gibt es Neues im Haus?
Das ganz große Neue ist, dass Sylvain Cambreling jetzt fest hier ist. Er wird dem Haus ein musikalisches Zentrum geben, das wir so in unserer ersten Spielzeit nicht hatten. Darauf freue ich mich sehr. Ansonsten haben wir einige Sänger fest ins Ensemble geholt, die wir größtenteils zuvor als Gäste oder im Opernstudio bei uns hatten: Lindsay Amman, Kai Preußker, Ronan Collett und Gergely Németi. Neu ist auch, dass wir bei „Don Giovanni“ jetzt zwei Besetzungen aus dem Ensemble haben. So können wir diesen Klassiker oft spielen.

Wo sehen Sie das Haus nach Ihrer ersten Spielzeit?
Ich denke, dass man nach der ersten Spielzeit, gerade nach dem wunderbaren Spielzeitabschluss mit dem Public Viewing des „Don Giovanni“ zum Schluss, deutlich spüren konnte, dass sich alle hier sehr mit dem Haus identifizieren. Der Geist im Opernhaus ist ein guter, man begegnet sich sehr offen, und ich bin fest davon überzeugt, dass gutes Theater nur in einer solchen Atmosphäre entstehen kann. Das gilt in gleichem Maße für Musik, denn da geht es ja ohnehin immer um ein Zuhören. Diesen Geist weiterzuformen ist eine Aufgabe, die nie aufhört.

Auf der Internetseite der Oper liest man als erstes das Wort „Ausgezeichnet!“. Kritiker der Zeitschrift „Die deutsche Bühne“ haben die Oper Stuttgart zur besten Bühne Deutschlands gewählt. Ihre Arbeit wird also auch jenseits von Stuttgart anerkannt . . .
Darüber haben wir uns sehr gefreut! Manchmal würde ich mir allerdings wünschen, dass auch hier vor Ort die Außergewöhnlichkeit einiger Produktionen wie etwa des Schönberg-Janácek-Opernabends noch mehr wahrgenommen würde. Aber vielleicht ist es hier ja ähnlich wie in der Schweiz. Max Frisch soll einmal gesagt haben, der Schweizer könne „nicht krönen“. Genau aus diesem Grund war das Gesamterlebnis unseres Public Viewings und die Breitenwirkung der „Don Giovanni“-Übertragung auch so wichtig.

Wie sieht es aus mit einem weiteren Opern-Public-Viewing Ende der kommenden Saison?
Das würden wir sehr gerne umsetzen, es hängt aber vom Geld ab. Den „Don Giovanni“ hat der SWR finanziert, und obwohl Theater und Fernsehen oft keine guten Freunde sind, waren die Zusammenarbeit und das Ergebnis sehr gut. Dass wir mit dem „Don Giovanni“ außerdem eine Premiere in den Park übertragen konnten, war nur möglich, weil das Haus vorher zehn Tage geschlossen war. Wir hatten ja bereits mit einer Sanierung über den Sommer geplant und dachten, die Besucher müssten dann über Plastikplanen durch das Foyer gehen. Eine Neuauflage der „Oper am See“ ginge 2013 nur mit einer bestehenden Produktion.

Welche Einschränkungen haben Sie momentan dadurch, dass das Schauspiel das Probenzentrum Nord als Spielstätte benutzt?
Wir haben gleich viele Probebühnen wie in der letzten Saison, weil uns das Schauspiel seine große Probebühne zur Verfügung gestellt hat und selbst zum Proben ins Depot ausgewichen ist. Aber die Probebühne des Schauspiels ist lange nicht so groß wie unsere. Wenn der Regisseur im Orchestergraben oder am Platz der Souffleuse sitzt, dann fehlt ihm die Distanz zur Szene. Ob das Ganze funktionieren wird, wenn Probenbetrieb und Aufführungen parallel laufen, muss man noch sehen. Schließlich sind Probebühnen intime Orte, auch wenn es riesige Hallen sind.

„Die Dimensionen einer Opernhaussanierung sind viel größer als zunächst angenommen“

Und die Sanierung des Opernhauses . . .
. . . hat sich durch das Malheur bei der Sanierung des Schauspielhauses weit verschoben. Vor 2016 kann nichts beginnen.

Dann können Sie jetzt ja munter planen.
Diese Planungssicherheit ist im Opernbetrieb unabdingbar. Die Dimensionen einer Opernhaussanierung sind viel größer als zunächst angenommen. Ein kleines Facelifting reicht bei einer hundertjährigen alten Dame wie dem Stuttgarter Opernhaus nicht aus, an einigen Stellen braucht es vielleicht auch einmal einen Platinknochen. Was saniert werden muss, läppert sich ja zusammen: Erst war es nur die Untermaschinerie, dann auch die Obermaschinerie, dann das Foyer, der Orchestergraben, und der ging dann schon nicht mehr, weil man das alles in drei oder vier verlängerten Sommerpausen gar nicht schaffen kann.

Hätten denn die sieben Monate Schließzeit ausgereicht, die für 2012 geplant waren?
Nein. Man muss das langfristig planen – so wie die Sanierung der Staatsoper in Berlin, und auch da wurden aus den ursprünglich geplanten zwei Jahren inzwischen vier.

Sie fordern also von der Politik eine Vision? Und Sie fordern außerdem eine Komplettsanierung – einschließlich eines erweiterten Orchestergrabens?
Wir haben schon über einige Varianten nachgedacht, wie man den Graben behutsam erweitern könnte. Aber das wäre alles nur Kosmetik und würde das eigentliche Problem nicht lösen. Vor 100 Jahren, als das alte Hoftheater abgebrannt war, hatte man eine Vision, und man hat dieses architektonische Ensemble mit einem großen und einem kleinen Haus sowie mit einem Verwaltungstrakt gebaut. Das neue Theater wurde zu einem der größten Europas, das hat der König den Bürgern mitten in der Stadt geschenkt. Das bewundern noch immer Besucher aus aller Welt. In Heidelberg wird demnächst ein Stadttheater nach langer Schließzeit wiedereröffnet. Das hat man sich etwas getraut. Diese lange Schließzeit zum Zweck einer grundlegenden, umfassenden Sanierung zeugt von Mut. Den müsste man in Stuttgart auch haben. Aber das kostet viel Geld. Um das kommt man nicht herum.

Die Geburtstagsfeiern zum hundertjährigen Bestehen des Littmannbaus beginnen mit einem Festkonzert an diesem Sonntag. Da könnte das Nachdenken doch beginnen.
Das sollte so sein, ja. Wir haben durch das Erbe dieses Hauses auch eine Verantwortung für die Zukunft. Man muss doch danach fragen, wie unser Theater in ein paar Jahrzehnten aussehen wird! Wie werden beispielsweise die heutigen Übertitel in der Zukunft aussehen, wie die Werk-Einführungen? Wohin entwickelt sich die Kunstform Oper? Stattdessen geht man immer von dem Ist-Stand aus. Das ist falsch.

Mit dem Konzert am Sonntag gibt Sylvain Cambreling seinen Einstand – und blickt vom Jahr der Opernhaus-Eröffnung aus je einhundert Jahre zurück und nach vorne.
Ja, zu hören ist Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre von 1812, rund um das Jahr 1912 entstanden Anton Weberns fünf Stücke op. 10, Leos Janáceks „Des Spielmanns Kind“ und Maurice Ravels „Valses nobles et sentimentales“, und für die heutige Zeit steht Mark Andres „. . . hij . . .“. Wir nennen das dann „Ein Jahrhundertkonzert“. Die Feiern gehen weiter mit einer Architektur-Ausstellung, es wird eine besondere Publikation geben, und Sergio Morabito und ich werden zusammen Strauss’ „Ariadne“ inszenieren, weil der Littmannbau 1912 ja mit der Uraufführung dieser Oper eröffnet wurde. Dabei werden wir auch die Geschichte des Hauses mit reflektieren.