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Die Stadt der Gegensätze: Vancouver hat ein gravierendes Obdachlosenproblem.

Vancouver - Der Gegensatz von Arm und Reich - wohl nirgendwo in der Welt ist er sichtbarer als in Vancouver. Mehr als 2000 Menschen kämpfen in der Olympiastadt täglich ums Überleben. Brian ist einer von ihnen: 45 Jahre alt, drogenabhängig, unterernährt, krank und obdachlos.

Es ist ein erbärmliches Bild, das Brian abgibt. Schmuddelige Klamotten, strähniges langes Haar, zotteliger Bart, strenger Geruch. Der arme Kerl ist ganz unten angekommen. Ausgehungert, mittellos, ohne feste Bleibe. Seine Beschäftigung? Brian verzieht das Gesicht. Was für eine Frage. Er pumpt jeden an, der ihm in die Quere kommt. Zwei Dollar will er. Zwei lausige Münzen für ein kleines Stück Pizza. "Ich habe seit Tagen nichts gegessen und sterbe vor Hunger", nuschelt er in einem Slang, der für Europäer nur schwer verständlich ist. Aber seine ausgestreckte linke Hand sagt mehr als jedes jammernde Kauderwelsch: Bitte, gebt mir etwas!

Die Verzweiflung hat ihn in die Glitzerwelt der Olympiastadt getrieben. Und natürlich die Hoffnung. Hier in Vancouver - dieser reichen Stadt, die erst kürzlich von dem britischen Wirtschaftsmagazin "Economist" zum Ort mit der weltbesten Lebensqualität gekürt wurde - sollen die Scheine locker sitzen. Gerade während der Spiele. In einer Zeit, in der ein Strom von Touristen die Stadt flutet. Und wie in jeder Metropole mündet dieser Strom in Straßen mit austauschbaren Fassaden. New York, London oder Vancouver. Die Nobelmarken der Boutiquen oder Juweliere sind überall vertreten - natürlich auch in der Robson Street. Hier sucht Brian Mitleid, hier findet er Opfer. Kleine Opfer von den Olympia-Touristen, eine große Hilfe für ihn. Es sind gute Tage für einen bettelnden Menschen wie Brian, die sich sonst eher in der East Hastings Street herumdrücken. Wenn die Statistik stimmt, streunen in Vancouver 2000 ohne Obdach umher. 16.000 Menschen sollen an - oder unter - der Armutsgrenze leben.

 


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Kultur ist nur Kulisse

Elend, das nicht in die heile olympische Welt passt. Es ist die Kehrseite der Medaille. Finstere Gestalten, die in Mülltonnen wühlen. Drogensüchtige, die in Hauseingängen herumlungern. Die vielen Prostituierten, die an den Ecken auf Freier warten. Erschreckende Bilder, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Nichts darf dem schönen Schein etwas anhaben. Weder die sozialen Missstände noch die Indianer, die ihren Kampf um Land und Rechte in British Columbia führen. Wer sich bei diesem Kampf Meinungsfreiheit leistet, riskiert seine Freiheit. Ureinwohner, die mit der Aufschrift "No Olympics on stolen native land" (Keine Olympischen Spiele auf dem geklauten Land der Ureinwohner) protestierten, sollen schon gesiebte Luft geatmet haben.

Der Eindruck verfestigt sich: Kultur ist nur Kulisse. So wie das Emblem der Spiele - der steinerne Inuit. Dabei waren die Einbindung der Urbevölkerung und die Achtung ihrer Rechte Bedingungen bei der Vergabe der Olympischen Winterspiele gewesen. Aber mit Versprechungen ist es so eine Sache. Auch die Stadtverwaltung von Vancouver, allen voran Bürgermeister Gregor Robertson, hat versprochen, das Obdachlosenproblem zu lösen und die heimatlosen Menschen in Notunterkünften unterzubringen. Geschehen ist nicht viel.

Ein Zustand, der besonders die Gegner der Olympischen Spiele wütend macht. "Mit den sechs Milliarden Dollar, die dafür ausgegeben wurden, hätte man das Problem der Obdachlosigkeit in ganz Kanada auf einen Schlag lösen können", behauptet Wendy Pederson, Organisations-Chefin von Poverty Olympics, deren Mottos eingängig sind: "Schafft Armut ab, es ist kein Spiel." Und: "Homes not games" - Häuser statt Spiele. Wendy Pederson versichert, dass sie und ihre Organisation keineswegs sportfeindlich seien. Oder grundsätzlich etwas gegen den Gedanken der Spiele hätten. Aber Olympia sei nun mal eine Ursache für die sozialen Missstände - wenn auch nur mittelbar. Denn dadurch sei Vancouver für viele noch attraktiver geworden. Die Metropole am Pazifik lockte - mit Arbeitsplätzen, Lebensqualität und Profitchancen. Bis zu 40.000 Menschen sind seit den neunziger Jahren zugezogen. Inzwischen ist die Einwohnerzahl auf zwei Millionen gestiegen - und mit ihr die Preise und Mieten. Vancouver ist nicht nur ein wunderschöner Fleck zwischen Bergen und Meer - es ist nun auch ein verflucht teures Pflaster.

Brian hat dies schmerzlich zu spüren bekommen. Keine feste Bleibe, kein Job. Kein Job, keine Bleibe. Der Sog dieser Abwärtsspirale hat ihn voll erwischt. Am Ende steht für ihn die Straße - ohne Wiederkehr ins normale Leben. "Ich habe keine Hoffnung mehr, da herauszukommen", gurgelt es aus ihm heraus. Wieder sind seine Worte kaum zu verstehen. Aber das ist auch nicht nötig. Seine erbarmungswürdige Erscheinung und der matte Blick der Augen sagen alles. Gestrahlt wird auf der Medal Plaza, dem Fixpunkt des Lebens, wie sie hier sagen.


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