Etliche Weltklassesportler aus Jamaika bringen sich in Stuttgart für die Sommerspiele in Form. Die Latte liegt hoch – auch für einen Olympiasieger.
Es ist morgens um 9 Uhr, die Sonne brennt, der Schweiß fließt in Strömen. Doch nicht nur deshalb fühlen sich die Sportler, die im Stuttgarter Stadion Festwiese trainieren, wie zu Hause. Heimatliche Gefühle weckt auch der Imbisswagen hinten in der Ecke, in dem karibische Spezialitäten zubereitet werden. Und natürlich der Stand des Tourismusverbandes von Jamaika, der für eine Reise in den Inselstaat wirbt: „Entschleunigen im schnellsten Land der Welt!“
Das ist ein originelles Motto. Aber auch eines, das immer wieder bestätigt werden muss. Zum Beispiel demnächst in Paris. 64 Leichtathletinnen und Leichtathleten aus Jamaika starten bei den Olympischen Sommerspielen, die Latte liegt hoch. „Bei den vergangenen Großereignissen haben wir immer mehr als zehn Medaillen gewonnen“, sagt Ludlow Watts, der Teammanager, „der Grat in unserem Sport ist sehr schmal, aber wir erwarten von unseren Sportlern wieder zehn Medaillen – mindestens.“
Großes Lob für Stuttgart
Sollte es klappen, hätte Stuttgart zumindest einen kleinen Anteil am Erfolg. Superstar Shelly-Ann Fraser-Pryce, die dreimalige Olympiasiegerin und zehnmalige Weltmeisterin, weilt mit ihrer Trainingsgruppe zwar in Spanien und andere bereiten sich in Italien vor, doch mehr als die Hälfte der jamaikanischen Olympiateilnehmer macht sich bis 24. Juli am Neckar fit für den Saisonhöhepunkt. „Wir waren in den letzten 25 Jahren in vielen Camps überall auf der Welt“, sagt Ludlow Watts, „doch hier ist der beste Standort von allen. Wir werden optimal auf die Wettkämpfe in Paris vorbereitet sein, und wenn es dort gut für uns läuft, dann können wir sagen: Stuttgart hat es möglich gemacht.“
Das hört sich gut an, solche Worte schmeicheln dem Gastgeber. Aber in diesem Fall sind sie ehrlich gemeint. Sagt Hansle Parchment. Der Olympiasieger über 110 Meter Hürden war vor einem Jahr schon mal in Stuttgart, holte sich im Stadion Festwiese, in der Molly-Schauffele-Halle und im Kraftraum des Olympiastützpunktes den Feinschliff für die WM in Budapest, bei der er Silber holte. „Die Bedingungen hier sind perfekt“, sagt der 1,95 Meter große Modellathlet, „wir werden optimal unterstützt.“
Parchment will den Gold-Coup wiederholen
Zur Stuttgarter Trainingsgruppe gehören unter anderem Alana Reid (19), die in 10,92 Sekunden jamaikanischen U-20-Rekord lief, Shashalee Forbes (28), die mit der Sprintstaffel 2016 Olympia-Silber und 2023 WM-Silber holte, das starke Diskus-Trio Ralford Mullings (21/Bestweite 69,67 Meter), Roja Stona (25/69,05) und Traves Smikle (32/68,14) sowie die Sprinter Oblique Seville (23) und Ackeem Blake (22), die Bestzeiten von 9,82 und 9,89 Sekunden aufweisen. Doch der prominenteste Athlet ist Hansle Parchment.
Der Hürdenläufer hat ein klares Ziel: Er will den Goldcoup von Tokio 2021 wiederholen. „Den Moment, in dem ich als Erster über die Ziellinie gelaufen bin, habe ich immer wieder vor Augen“, sagt er, „jetzt geht es in Stuttgart darum, körperlich aufs höchste Niveau zu kommen und weiter an der Technik zu feilen.“ Um sich in Paris steigern zu können – denn das ist ein Muss.
Mit einer Saisonbestleistung von 13,19 Sekunden, die schon in der jamaikanischen Olympiaausscheidung nur zu Rang drei reichte, wird in Paris nichts zu holen sein. 17 Läufer waren 2024 schneller als Hansle Parchment, der deshalb aber nicht beunruhigt ist: „Hey, es ist der Hürdensprint. Zeiten, die einen Monat alt sind, interessieren niemanden. Alle, die in Paris ins Finale kommen, können am Ende auch gewinnen.“
Hohe Umfänge, hohe Intensität, hohe Qualität
Wenn der Olympiasieger solche Sätze spricht, hört Sven Rees genau zu – diese Lockerheit gefällt ihm. Der Leistungssportdirektor der baden-württembergischen Leichtathleten hatte im Frühjahr mitbekommen, dass Ausrüster Puma einen Ort für die Olympiavorbereitung der Jamaikaner suchte, und Stuttgart ins Spiel gebracht. Nun beobachtet er voller Interesse, wie sich die Topsportler in Form bringen. „Die Trainingsinhalte sind überall auf der Welt ziemlich ähnlich, da gibt es keine großen Unterschiede“, sagt Sven Rees, „von den Jamaikanern wissen wir, dass ihr Training das ganze Jahr über auf sehr hohe Umfänge und sehr hohe Intensität ausgelegt ist. Hier in Stuttgart ist gut zu sehen, dass sie zudem auf eine sehr hohe Qualität in der Ausführung Wert legen. Und dass alles auf Athletik und Kraft basiert. Diese Basics haben wir in Deutschland ein bisschen verloren.“
Auch deshalb freut sich Uli Derad, der Geschäftsführer des Landessportverbandes, dass der LSV und der jamaikanische Leichtathletikverband mittlerweile eine Absichtserklärung unterzeichnet haben. Stuttgart wird demnach auch künftig Trainingsstandort vor Großveranstaltungen in Europa sein, zudem ist ein Austausch unter Trainern, Sportmedizinern und Wissenschaftlern geplant. „Für uns ist interessant zu sehen, was sie anders und besser machen“, sagt Derad, „aber jetzt ist erst mal wichtig, dass Jamaika erfolgreiche Olympische Spiele erlebt.“
Und das schnellste Land der Welt bleibt.