Michael Jung, der erfolgreichste Reiter der Vielseitigkeitsgeschichte, hat nach drei Einzel-Goldmedaillen bereits die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles im Blick. Wird er versuchen, dort auch noch im Springwettbewerb zu starten?
Nicht selten empfinden Olympiasieger den Stress, der direkt auf den Triumph folgt, als extrem anstrengend. Und manchmal sogar, verglichen mit dem eigentlichen Wettkampf, als noch größere Belastung. Interviewmarathon in der Mixed-Zone, offizielle Pressekonferenz, Dopingkontrolle, jede Menge Schulterklopfer und Terminabsprachen: Goldgewinner haben erst einmal keine ruhige Minute mehr. Umso erstaunlicher war, wie Michael Jung am Montagabend mit dem ganzen Tohuwabohu umgegangen ist. Ruhig, sachlich, geduldig – eben wie ein echter Champion.
Der goldene Reiter aus Horb a. N.ckar holte in Paris seinen dritten Olympiasieg im Einzel, das hat in der Vielseitigkeit noch niemand vor ihm geschafft. Nach der Pressekonferenz nahm er sich lange Zeit, um einer Handvoll Printjournalisten Rede und Antwort zu stehen.
Herr Jung, Sie sind der erfolgreichste Reiter in der Geschichte der Vielseitigkeit. Bedeutet Ihnen das irgendetwas?
Natürlich.
Was?
(überlegt lange) Ich glaube, das muss erst noch ein bisschen mehr ankommen. Aber es macht mich stolz. Doch das bin ja nicht nur ich alleine, es ist das ganze Team drumherum. Jeder, der mit anpackt und hilft. Jeder, der mich auf meinem Weg unterstützt – so viele Freunde, die Familie. Das Ganze ist ein absoluter Teamerfolg.
Michael Jung ist ein sehr höflicher Mensch. Er gibt einem das Gefühl, trotz der vielen Dinge, die noch auf ihn warten, nicht in Eile zu sein. Das mag an den Gegebenheiten in der Mixed-Zone hinter der riesigen Reitarena im Schlossgarten von Versailles liegen – die Organisatoren haben den Interviewbereich unter schattenspendenden Bäumen eingerichtet, was angesichts des sonnigen Wetters und der hohen Temperaturen eine Wohltat ist. Es liegt aber auch an der Art des Mannes, den viele für den besten Reiter der Welt halten. Er hört dem Fragesteller genau zu, und wenn er antwortet, schaut er seinem Gegenüber in die Augen.
Wie fühlt es sich an, Olympiasieger zu werden?
Es ist ein absolut besonderer Moment, wenn der ganze Druck von einem abfällt. Da gehen einem tausend Gedanken durch den Kopf, es ist unbeschreiblich.
Speziell war auch die Kulisse hier im Schlossgarten. Haben Sie eine solche Atmosphäre schon einmal erlebt?
Das ist schwierig zu vergleichen, wir haben viele, viele tolle Turniere. Aber natürlich ist es hier in dem Park, in dem noch nie ein Turnier stattgefunden hat, etwas ganz Besonderes gewesen, vor allem beim Geländeritt. Insgesamt war es ein fantastischer Wettbewerb, der klasse war für unseren Sport, für den wir hier eine Woche lange sehr gute Werbung gemacht haben.
Die Sommerspiele in Paris gehen noch eineinhalb Wochen weiter, allerdings ohne Michael Jung. Er hätte sehr gerne im olympischen Dorf gewohnt, nachträglich dort noch einzuziehen, ist aber kein Thema. Denn daheim in Horb wartet viel Arbeit, schon Mitte September geht es wahrscheinlich zum Turnier nach Donaueschingen.
Was motiviert Sie immer wieder neu?
Jeder will doch in dem, was er tut, zeigen, dass er gut ist, vielleicht sogar der Beste. Wir haben das tolle Glück, mit Tieren zusammenzuarbeiten, da läuft nicht immer alles wie geplant. Deswegen heißt es ja, dass man als Reiter eigentlich zwei Leben benötigt – eines zum Lernen und eines zum Genießen. Es gibt immer wieder neue Dinge, die man nie zuvor gehabt hat. Das ist auch das Schöne an der Ausbildung von jungen Pferden. Da können extrem viele Kleinigkeiten dazwischenkommen.
Werden Sie bis zu den Sommerspielen 2028 in Los Angeles weitermachen?
Definitiv.
Sie haben in der Pressekonferenz erklärt, als Springreiter bei Olympischen Spielen zu starten, wäre kein unmittelbares Ziel, aber ein Traum. Wie realistisch ist dieses Szenario?
Das Bestreben, der Beste zu sein, ist natürlich da. Deswegen mache ich das alles – weil es mir Spaß macht, immer dazuzulernen und weiterzukommen. Und ich glaube, dass ich auch tolle Pferde dafür habe. Aber das muss alles ein bisschen wachsen. In vielen Sportarten ist die Altersspanne für Athleten sehr knapp bemessen. Das Tolle am Reiten ist, dass man es deutlich länger genießen kann.
Ist es denkbar, bei einer Großveranstaltung wie den Olympischen Spielen in der Vielseitigkeit und im Springen zu starten – oder wäre das doch zu viel?
Das werden wir sehen.
Es hörte sich schwer danach an, als würden dem Reiter, der sich zum Sonnenkönig von Versailles gekrönt hat und der an diesem Mittwoch seinen 42. Geburtstag feiert, die Herausforderungen so schnell nicht ausgehen. Kann er tatsächlich auf der größten Bühne, die der Sport zu bieten hat, nicht nur die Vielseitigkeit dominieren, sondern womöglich noch in einer zweiten Disziplin um Medaillen kämpfen? Laura Collett würde das nicht überraschen. „Er ist ein Genie“, schwärmte die Britin, nachdem sie Bronzue in der Vielseitigkeits gewonnen hatte, „Michael Jung hat uns gezeigt, wie man reiten kann.“