Die Sommerspiele von Paris finden vor allem in Saint-Denis statt. Bekannt für Armut, Immigration und Krawalle, sucht der Vorort nun den Anschluss an die Hauptstadt. Im olympischen Dorf dort sollen die Sportler und Sportlerinnen – trotz spartanischer Einrichtung – dennoch auf ihre Kosten kommen.
Es ist ein großer Tag für den Vorort, der sich ein paar Kilometer von Paris entfernt befindet. Der Präsident ist nach Saint-Denis gekommen, um das olympische Aquatikzentrum einzuweihen. „In Form?“, fragt Emmanuel Macron die Lokal- und Regionalpolitiker, die ihn begrüßen. Der sportliche Staatschef, Freizeitboxer und Fußballspieler, lobt den nachhaltigen Prestigebau, der mit Sonnenkollektoren auf dem Dach die Energie nahezu selbst produziert.
Der Präsident schwärmt von diesem Departement, das zwar das ärmste ist in Frankreich, aber auch das jüngste, bunteste, lebendigste – und das kontrastreichste: Saint-Denis hat einerseits die höchste Kriminalitäts- und Drogenrate des Landes. Zu dem Vorort gehören einige der berüchtigtsten Banlieue-Gemeinden wie Aulnay-sous-Bois, La Courneuve oder Sevran. Aber das „heißeste“ Department Frankreichs, wie es genannt wird, bringt auch Sportler von Weltformat wie Fußballstar Kylian Mbappé hervor; es unterhält den Flughafen Roissy, einen der größten Europas – und zieht immer mehr Weltkonzerne wie Total Energies, BNP Paribas oder die Bahn SNCF an, denen die Immobilienpreise in Paris zu horrend sind.
Die neuen Geschäftsviertel gruppieren sich vor allem um das Stade de France, das für die Fußballweltmeisterschaft von 1998 gebaut wurde – als Zinedine Zidane „Les Bleus“, die französische Fußballnationalmannschaft, zum Titel geführt hatte. Ende Juli beherbergt das Stadion die wichtigste olympische Disziplin: die Leichtathletik.
Olympisches Budget ist gestiegen
Abgesehen von zwei Ausnahmen wie dem Aquatikzentrum finden die Sommerspiele in Einrichtungen statt, die bereits bestehen. Das schont das Klima und spart Kosten. Das olympische Budget ist inzwischen von 6,8 auf 9 Milliarden Euro gestiegen.
Paris versucht, postolympische Bauruinen zu vermeiden
Paris versucht zudem, postolympische Bauruinen wie 2004 in Athen oder 2016 in Rio zu vermeiden. Das Aquatikzentrum solle der Jugend zugute kommen, sagt Macron bei der Besichtigung des Schwimmbades. Die Schüler, die an diesem Tag gekommen sind, und sich einen Platz auf den 5000 Schalensitzen gesucht haben, applaudieren artig. Laya (10) findet das Zentrum „sehr schön“ und will nun Schwimmen lernen. Die Hälfte der Jugendlichen in Saint-Denis kann das nicht. Anis (9) hingegen mag das nach Chlor riechende Wasser nicht. Gekommen sei er nur, weil es etwas zu essen gebe. Als der Staatspräsident in seine Nähe kommt und den Schülern zuwinkt, ist der Junge dennoch begeistert.
Houria, die Lehrerin sagt, sie ist froh, dass die „JO“ – wie sie die Jeux Olympiques nur nennt – in Saint-Denis stattfinden würden. „Es war dringend nötig, dass der Staat in das Departement mit den meisten jungen Bürgern investiert“, sagt sie. „In den letzten Jahren ist es schwierig geworden, hier zu leben, mit all den Gefahren und der Gewalt.“
Vor dem Schwimmbad fegen Regenböen über die neue Fußgängerbrücke. Aus Richtung des Stade de France marschiert ein Häufchen völlig durchnässter Demonstranten darauf zu. Auf ihrem Transparent steht: „177 Millionen für ein Schwimmbad, während unsere Schule ertrinkt.“ Die schwer bewaffneten Polizisten, fast so zahlreich wie Demonstranten, hindern die Lehrergewerkschafter jedoch daran, näher zu kommen. Jules Rondeau vom Gewerkschaftsbund CGT erzählt, in welch bedenklichem Zustand die Schulen von Saint-Denis seien: „An einer Schule ist das Trinkwasser verseucht, in einer anderen fehlen Stühle und Tische für den Unterricht, und im Lycée Paul Eluard gibt es Ratten. Wenn ein Lehrer geht, warten die Klassen wochenlang auf Ersatz. Alles in allem verlieren sie bis zur Reife ein Schuljahr.“ Rondeau bricht ab, als die Polizisten einen Gewerkschafter festnehmen. „Sie wollen uns einschüchtern, damit wir während der Spiele Ruhe geben“, sagt der CGT-Sprecher. Und die Olympischen Spiele? „Die Eliten der Nation beschenken uns mit neuen Sportarenen, weil es in Paris dafür keinen Platz hat. An der Vorstadtmisere ändert das nichts. Die Wohnblöcke oder die Schulen zu renovieren, der Jugend Jobs zu vermitteln – das steht nicht auf dem Programm.“
Der Direktor des olympischen Dorfes ist ein Schweizer
Laurent Michaud, der Direktor des olympischen Dorfes in Saint-Denis, ist ein Schweizer: Neutralität bei der Vergabe der Wohnungen hat für den 45-jährigen Manager oberste Priorität. Die großen Delegationen der USA, Chinas oder Brasiliens haben zwar aus logistischen Gründen die erste Wahl. Russen und Ukrainer werden getrennt, auch Israeli und Araber. Aber nicht wegen der Sportler: „Die wollen in den meisten Fällen keine politischen Kriterien anwenden“, sagt Michaud auf einer Führung durch das „Village“. Es ginge allein um die Sicherheit. „Sie bestimmt über die Aufteilung der Athletinnen und Athleten.“
Das olympische Dorf von Saint-Denis wurde in einer 52 Hektar großen Industrie- und Gewerbezone errichtet. Die würfelförmigen, fünf- bis achtstöckigen Gebäude werden bei Olympia 2024 fast 15 000 Gäste beherbergen – insgesamt 10 300 Athletinnen und Athleten sowie 4500 Sportfunktionäre.
Die 2800 Wohnungen haben keine Küchen, dafür ein Wohnzimmer und meist zwei oder drei Schlafzimmer. Der Komfort ist überall gleich – und gleich rudimentär. Mobiliar ist funktional, und die Nächte werden die Sportler auf Kartonbetten verbringen. „Ein Gebot der Nachhaltigkeit“, erklärt Michaud. Die Räume sind so spartanisch eingerichtet, dass ein amerikanischer Journalist bei der Führung spontan meinte, das Mobiliar mache ja „depressiv“. Laurent Michaud erwiderte, er habe einen Selbstversuch unternommen und könne die Solidität und Bequemlichkeit der Betten garantierten. Die Matratzen sind zwar nur eine Handbreit dick – doch je nach Anordnung der dreigeteilten Matratzen, könne man den Härtegrad regulieren. Über Klimaanlagen verfügen die Wohnungen nicht. „Unsere Bodenlüftung ist ökologischer“, meint der Direktor des olympischen Dorfes. „Sie senkt die Temperaturen um immerhin acht Grad.“ Wenn also in Paris Temperaturen von 36 Grad Celsius herrschen, müssen die Athleten bei 28 Grad schlafen. Auf Wunsch stellt Michaud „ausnahmsweise“ auch mobile Kühlungsapparate zur Verfügung. Alkohol – auch Champagner zum Feiern der Medaillen – ist im olympischen Dorf untersagt, wie der Schweizer klarmacht. Asketisch müssen die Athleten mitnichten leben: Für sie stehen 300 000 Gratiskondome bereit.
Alkohol zum Feiern der Medaillen ist untersagt
Wichtiger ist es Michaud, dass das olympische Dorf nach dem Ende der Spiele bestehen bleiben. Alle Wohnungen werden verkauft. Die stolzen Quadratmeterpreise von 5000 bis 7000 Euro haben allerdings bisher nur wenig Interessenten angezogen.
Unbestreitbar ist: Die Olympiabauten in Saint-Denis wirken wie urbane Oasen in der Banlieue-Wüste. Autobahnbrücken, Bahndepots, Lagerhallen und heruntergekommene Wohnsiedlungen prägen das Departement. Dort wird am helllichten Tag gedealt, die Metzgereien sind längst halal, das heißt, sie schlachten nach muslimischem Regelwerk. In schummrigen Cafés verfolgen Arbeitslose die Heerscharen von Bauarbeitern in weißen Helmen und orangefarbenen Leuchtwesten, die das Departement bevölkern. Vielerorts sind Baugerüste, Kräne und Zementmischer zu sehen.
Großprojekt auf der Seine-Insel
So ist Saint-Denis – ein urbanes Chaos. Eine Frau versucht, das Ganze zu managen: Sophie Weil leitet für das Unternehmen Plaine Commune Développement (PCD) ein Riesenprojekt auf einer schmalen, aber sieben Kilometer langen Insel in der Seine. „Die Île Saint-Denis ist kein Inselparadies, sie zählt einige der ärmsten Wohnsiedlungen der Umgebung“, erzählt die Ingenieurin. „Unsere Absicht war es, die Wohnblöcke auf der Insel mit neuen, nachhaltigen Gewerbe- und Bürozonen sowie Schulen und Studentenheimen zu verbinden. Sogar ein Seine-Hafen ist entstanden.“
Ohne die Sommerspiele wäre das Großprojekt auf der Seine-Insel nicht entstanden. „Während der Spiele werden wir 2700 Athleten und Sportfunktionäre beherbergen“, sagt Weil. „Deshalb wurde die Seine-Insel über eine Fußgängerbrücke mit dem olympischen Dorf verbunden.“ Nach den Sommerspielen sollen 9000 Einwohner in dem neuen Viertel leben und auch arbeiten. Sogar Lärmschutzwände haben sie erhalten. „Sehen Sie die Brücke der Autobahn A 86?“, fragt Sophie Weil. „Die Bewohner der Insel hatten 20 Jahre für Lärmschutz gekämpft – jetzt ist er da. Ohne Olympia wäre das nicht passiert.“