Das deutsche Team hat in Paris noch einmal weniger Medaillen gewonnen wie bei den Spielen in Tokio vor drei Jahren. Wie ist der Trend zu stoppen? Die Diskussionen nehmen Fahrt auf.
Sogar die vielleicht größten Stars der Olympischen Spiele von Paris waren plötzlich nicht mehr interessant. In der Arena von Bercy spielten auf dem Feld zwar die NBA-Stars aus den USA, das Publikum aber feierte einen Tribünengast. Den französischen Gold-Fisch Léon Marchand. Vor den Cafés der Innenstadt drängten sich die Einheimischen vor den Fernsehern, wenn der Judo-Gigant Teddy Riner auf der Matte stand – und wann immer bei diesen Spielen eine Entscheidung zugunsten der Gastgeber gefallen war, schien die ganze Nation aufzuschreien. Sie durften oft schreien.
Olympia in Paris hat den Franzosen zweifelsohne eine neue Sportbegeisterung beschert – und grandiose Leistungen ihrer Athletinnen und Athleten. Die Équipe tricolore hat so viele Medaillen wie noch nie bei Olympischen Spielen gewonnen (62) – und auch der Goldrausch war noch nie so ausgiebig (16).
Was das mit dem deutschen Sport zu tun hat? Ziemlich viel. Denn in den zwei Wochen, die für den französischen Sport in kollektiver Euphorie verliefen, setzte sich unter dem Dach des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ein Trend fort, der den Anlass zur Sorge aufrechterhält.
Auf den ersten Blick haben die Sportlerinnen und Sportler des selbst ernannten Team D zwar die Vorgabe der Verbandsspitze erfüllt. Sie erreichten einen Platz unter den besten zehn im Medaillenspiegel (Platz zehn) und holten dabei sogar mehr Goldmedaillen als 2021 in Tokio (damals zehn, diesmal zwölf). Und es waren auch wirklich besondere dabei.
Einige besondere Olympiasiege
Der erste Olympiasieg in der Rhythmischen Sportgymnastik durch Darja Varfolomeev, etwa. Die Sensation im Kugelstoßen durch Yemisi Ogunleye. Der überraschende Triumph im 3x3-Basketball der Frauen. Oder der ersehnte Einzelsieg im Springreiten – Christian Kukuk feierte ihn. Aber: Nach noch 37 Medaillen in Tokio kamen in Paris nur noch 33 zusammen. „Wir müssen“, sagte Olaf Tabor, „selbstkritisch den Vergleich mit Tokio ziehen“. Das machte der Leistungssportvorstand des DOSB, erwähnte lobend die fast 80 Platzierungen zwischen Rang vier und acht, die auch erreicht worden sind – musste aber eingestehen: „Die Negativserie setzt sich leider fort.“
Weshalb weiter diskutiert wird, wie sie zu beenden ist.
An Kritikern mangelt es im Moment des Misserfolgs logischerweise nicht. Frank Ullrich, früher Biathlon-Olympiasieger und -Erfolgstrainer, ist mittlerweile Chef des Sportausschusses im Deutschen Bundestag. Er sagte dieser Tage dem „Spiegel“: „Ich habe das Gefühl, viele junge Menschen haben sich vom Leistungsprinzip verabschiedet, aber auch der organisierte Sport geht diesen Trend in Teilen mit.“ Er hätte sich im Vorfeld der Spiele von Paris ein „anderes Anspruchsdenken“ gewünscht. Und auch, dass man in der Spitzensportförderung „Prioritäten“ setzt.
Es ist die eine Dauerfrage des deutschen Sports: Soll man sich auf weniger Sportarten konzentrieren, die am ehesten Erfolge versprechen? Oder fördert man weiter in der vollen Breite? Eine andere ist, wie direkt die Förderung zu jenen durchdringt, die sie brauchen – zu Sportlern und Trainern.
Zu viel Bürokratie im deutschen Sport
„Ich bringe es mal in einen Satz“, sagte in Paris Jörg Bügner, der Sportvorstand des Deutschen Leichtathletikverbands (DLV): „Wir schreiben Excel-Tabellen, die anderen trainieren.“ Und das, meinte er, „kann nicht sein“. Ist aber so – was auch Olaf Tabor einräumt, der sich zum Ziel gesetzt hat, das zu ändern. „Wir haben zu viel Bürokratie“, sagt er, „wir konzentrieren uns zu viel auf Dinge, die nicht der direkten Athletenförderung zugutekommen.“ Das sei personalintensiv und koste Geld. Das dann an anderer Stelle fehlt.
Zum Beispiel, wenn es darum geht, Sportler und vor allem Trainer zu entlohnen. „Bundestrainerinnen und Bundestrainer müssen sich immer noch von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln“, sagt Thomas Weikert, „und wir wundern uns dann, dass sie uns in den sicheren Lehrerberuf oder ins Ausland abhandenkommen.“ Der DOSB-Präsident bringt daher Anreize wie Rentenpunkte für ehrenamtliches Engagement im Sport oder eine höhere Übungsleiterpauschale ins Gespräch. Wie Medaillengewinne finanziell belohnt werden, war unter deutschen Sportler in Paris auch schon Thema.
Bürokratie und Finanzen – das sind Themen des Sports, die auch viel mit der Politik zu tun haben. Aus dem Bundeskabinett kam noch vor diesen Spielen im Nachbarland das Bekenntnis, eine deutsche Bewerbung um Sommerspiele zu unterstützen. Für viele Funktionäre ist das vielleicht kein Allheilmittel, aber doch sehen sie das olympische Feuer als eine Art Brandbeschleuniger im positiven Sinne.
Um jungen Sportlerinnen und Sportlern ein Ziel und Motivation zu geben. Um frische Gelder zu generieren. Um dem Sport im Land – von der Basis bis an die Spitze – wieder zu mehr Wertschätzung zu verhelfen. „Das scheint ein großer Boost zu sein“, sagt Olaf Tabor und blickt dabei nicht nur auf die aktuellen französischen Erfolge. Sondern auch darauf, wie sich der Spitzensport in Ländern entwickelt hat, die in den vergangenen Jahrzehnten Olympia eine Heimat gegeben haben. Norwegen, Australien, Großbritannien. Zum Beispiel.
Der Blick geht in andere Länder
Der Blick nach außen soll, ob nun mit einer Bewerbung oder ohne, für den deutschen Spitzensport künftig Standard sein. Internationalen Trainingsgruppen will man nicht mehr mit Skepsis begegnen, sondern sie als befruchtende Kollaborationen sehen. Zudem wird es darum gehen, das beste Zusammenspiel aus zentraler Steuerung und der Stärkung von regional leistungsstarken Trainingsgruppen zu finden. Eine angedachte Sportagentur soll diese finanzielle wie inhaltliche Steuerung übernehmen.
Paris, das vielleicht als komprimiertes Fazit, hat dem deutschen Sport erneut gezeigt: Andere mit vergleichbaren oder sogar schlechteren Grundvoraussetzungen identifizieren und fördern ihre Talente besser – die Niederlande zum Beispiel holte mehr Gold und auch insgesamt mehr Medaillen als Deutschland. „Wir brauchen“, sagt Olaf Tabor, „ein ganzheitliches Paket, um besser zu werden“. Er versichert: Vieles sei schon auf dem Weg, er warnt aber auch: „Das ist ein mittelfristiger Prozess.“
Das ist eine vage Benennung der Perspektiven. Die Sorge, dass die Mühlen langsam mahlen, scheint nicht unbegründet. Weshalb Olaf Tabor nachschiebt: „Hoffentlich wird es kein Marathon.“