Bei Marlies Gaus (rechts) fühlt sich Edeltraud Weiß wohl. Foto: Wolf

Bruderhausbewohnerin Edeltraud Weiß erobert sich Sozialraum. Bedürfnisse der Menschen sind Richtschnur.

Oberndorf/Fluorn-Winzeln - Jeden Freitag marschiert Edeltraud Weiß wohlgemut und erwartungsfroh vollkommen allein vom Bruderhaus in Fluorn zur Bäckerei Stemke. "Hallo Maria", ruft sie der Servicekraft hinter der Theke zu. Diese grüßt fröhlich zurück. "Grüß Gott Edeltraud". Eigentlich heißt Maria Marlies Gaus. "Edeltraud kann sich den Namen aber nicht richtig merken, und so lassen wir es bei Maria", erklärt Marlies Gaus schmunzelnd. Die Bruderhaus-Bewohnerin hält ihr ihren Geldbeutel entgegen und fragt, ob das Geld für ein "Käsweckle" und einen Tee ausreicht. Heute findet sich aber nur ein Euro in der Börse, und die Bäckereiangestellte erklärt freundlich, aber auch bestimmt: "Dafür gibt es nur eine Butterbrezel". Edeltraud Weiss ist damit hochzufrieden, schon auf dem Weg zur Bäckerei hat sie von einer leckeren Butterbrezel geschwärmt. Sie ist nicht die einzige, die regelmäßig und selbstständig den Weg vom Bruderhaus zur Bäckerei findet. Einer freut sich freitags immer auf eine Tasse Kaffee, ein anderer kommt abends, um eine Tüte Chips sowie Gummibärchen zu kaufen und vor allem eine Zeitlang gemütlich mit Marlies Gaus zu plaudern.

Wenn Diana Reiner, seit 1. Juni Mitarbeiterin im Sozialdienst der BruderhausDiakonie und Absolventin des Dualen Hochschulstudiengangs Sozialwirtschaft, auf die "Sozialraumorientierung" zu sprechen kommt, ist sie in ihrem Element. Für die 25-Jährige steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Wünschen, aber auch seinen Gefühlen. Im Bruderhaus ist es immer ein Mensch mit einem Handicap.

Reiner sieht es daher als ihre Aufgabe an, die Bewohner in ihrer Selbstständigkeit, ihrem Selbstbewusstsein zu stärken und zu fördern. Das ist für sie ein Stück Demokratisierung. "Wir fragen danach, was sie wollen, welche Wünsche sie haben. Dann müssen wir überlegen, wie und ob wir es ermöglichen können, die Vorstellungen des betreffenden Bewohners umzusetzen, ihn so zu fördern, dass er den Anforderungen gewachsen ist." So gilt es zu prüfen, wie sich der Betreffende in seinem "Sozialraum" zurechtfinden kann, wie er sich diesen für sich selbst erobern kann. "Wir versuchen, ihm den Weg zu ebnen, so dass er sich ein kleines Netzwerk mit seinen Interessen, seinen Bekannten und Verwandten sowie in den vorhandenen Strukturen aufbauen kann", erklärt Reiner. Dieses Netzwerk entstehe natürlich nicht von heute auf morgen, sondern wachse in einem länger andauernden Prozess. "Jeder Mensch hat das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben. Es liegt an uns, ihn darin zu unterstützen", steht für die junge Frau fest.

Edeltraud Weiß hat sich ihren "Sozialraum" erobert. Sie macht sich selbstständig auf den Weg zur Bäckerei, in der sie auch Begegnungen mit Menschen außerhalb des Bruderhauses hat, Menschen, die sie annehmen, so wie sie ist, die ihr zur Seite stehen, wenn es notwendig ist. "Andere gehen gerne zur Metzgerei Heinzelmann oder zum Edeka, um dort Einkäufe zu machen. Wieder andere sind Fußballfans und gehen auf den Fußballplatz", betont Reiner. Überall seien die Bruderhausbewohner willkommen, überall werde ihnen geholfen.

Heute wird Edeltraud Weiß ausnahmsweise von Diana Reiner zur Bäckerei begleitet. Und sie genießt es. Sie erzählt munter drauf los, was sie so macht, was sie in der Bäckerei kaufen möchten – eine Butterbrezel –, und dass sie das Weihnachtsfest bei ihrer Schwester feiern wird. Immer wieder sagt sie aber auch zu ihrer Begleiterin, dass diese "eine hübsche Frau" sei, was Reiner mit einem fröhlichen Lachen quittiert.

Annerose Stemke, die Inhaberin der Bäckerei, freut sich, dass sie mit Marlies Gaus hier in Fluorn eine Mitarbeiterin hat, die sehr gut mit den Bruderhaus-Bewohnern umgehen kann, die eine Beziehung zu ihnen aufgebaut hat. "Es dauert ja eine Zeitlang, bis sie Vertrauen zu jemanden gefasst haben. Deshalb versuche ich, hier in Fluorn auch immer die gleiche Bedienung einzusetzen." In Fluorn-Winzeln haben die Menschen mit einem Handicap auf jeden Fall ihre Heimat gefunden.