Die "Höhenmarke" mit dem Reichsadler ohne Hakenkreuz am Turm der katholischen Pfarrkirche Sankt Michael in Oberndorf aus dem Jahr 1945 Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: "Höhenmarke": Ein "Denk-Mal" erinnert an das Kriegsende am 8. Mai vor 75 Jahren in Oberndorf

Es ist zwar nur eine kleine Metallplakette, die wohl kaum jemand kennt. Und doch handelt es sich dabei um ein symbolkräftiges "Denk-Mal" zur Erinnerung an das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1945 – heute vor 75 Jahren.

Oberndorf. Das "Denk-Mal" befindet sich am Fuß des Turmes der katholischen Pfarrkirche Sankt Michael an einer gleichermaßen geschichtsträchtigen wie stimmungsvollen Stelle der Oberstadt. In schönen Frühsommertagen – ähnlich war es wohl vor 75 Jahren – stehen die herrlichen Bäume des alten Stadtgartens in schönsten Farben da.

Und auch der Kirchturm ist von einigen Büschen und Sträuchern umrankt. Ein großer Holunderstrauch setzt in diesen Tagen zu seinem Blütenmeer an. Das Grün umrahmt vor dem alten Gemäuer des Kirchturms einen kleinen Zeit-Zeugen, der beispielhaft vom Untergang des "Dritten Reiches" am 8. Mai 1945 kündet – eine Gedenkstätte, die als solche nicht beachtet wird und für den nachdenklichen Zeitgenossen doch eine solche ist.

Die Erinnerung an die NS-Zeit ist in Oberndorf bemerkenswert vielgestaltig. Wie andernorts gibt es die materielle Erinnerung mit Denk- und Mahnmälern (mit herausragenden Besonderheiten), Dokumenten und Publikationen und die immaterielle Erinnerung mit persönlichen Erlebnissen der noch lebenden Zeitzeugen oder der von ihnen weitergegebenen Geschichten – und auch Legenden. Eine umfassende, wissenschaftliche Erforschung der NS-Zeit in Oberndorf am Neckar fehlt bis heute. Alt-Bürgermeister Klaus Laufer arbeitet seit vielen Jahren an den Grundlagen für ein solches Projekt.

Politisches Symbol

Gegenüber den großen Denk- und Mahnmälern wie dem Ehrenmal für die Gefallenen auf dem vorbildlich gepflegten Friedhof, dem Gedenkstein für das "Arbeitserziehungslager Oberndorf am Neckar" im Lautenbachtal und dem "Buch der Erinnerung" im Neckartal ist der "Zeit-Zeuge" an der katholischen Pfarrkirche Sankt Michael sehr bescheiden – und doch ebenfalls sehr aussagekräftig. Es handelt sich dabei um eine so genannte "Höhenmarke" in den Maßen 14 auf 14 Zentimeter, die einen Messpunkt kennzeichnet.

Im Deutschen Reich wurden solche "Höhenmarken" an zahlreichen öffentlichen Gebäuden angebracht, insbesondere an Türmen. Einige haben sich bis heute erhalten.

Abgebildet ist auf der Metallplakette der Reichsadler, wie er in der Zeit des Nationalsozialismus als staatliches Hoheitszeichen des Deutschen Reiches auf Dokumenten aller Art, an öffentlichen Gebäuden und Fahrzeugen oder auf den damals nicht wenigen Orden und Abzeichen üblich war. Das Symbol des alten (christlichen) Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde damals zum politischen Symbol des totalitären "Dritten Reiches" – signifikant durch das Parteisymbol der NSDAP in einem Eichenkranz, das der Reichsadler in seinen Krallen hielt.

Mit der Zerschlagung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden auch die meisten ihrer Symbole aus dem öffentlichen Raum entfernt – und zwar meistens sehr schnell, oft sogar gleich bei Kriegsende – indem Hakenkreuze aus Metall und Stein entfernt und die Fahnen verbrannt wurden, wenn sie nicht zur triumphalen Beute der alliierten Sieger wurden.

Recht bekannt ist das Bild, als bereits am 22. April 1945 US-Soldaten auf dem "Reichsparteitagsgelände" in Nürnberg das große Hakenkreuz sprengten – eines der bildkräftigsten Symbole für das Ende des "Dritten Reiches".

Auch in Oberndorf machte sich jemand – wer immer es auch war – früher oder später an die "Entnazifizierung" dieses Symbols und schlug das Hakenkreuz heraus, und machte die an und für sich unpolitische "Höhenmarke" zu einem "Denk-Mal" und "Zeit-Zeugen" des Kriegsendes.

Der Reichsadler hatte damit auch in Oberndorf unter Einsatz von Gewalt das Hakenkreuz aus seinen Krallen verloren – und Deutschland für einen demokratischen Neubeginn wieder freigegeben. Ähnlich ging man übrigens auch in zahlreichen Behörden und Schulen vor, die ihre Bücher und Dokumente "entnazifizierten", indem man das Hakenkreuz schwärzte. Auch im privaten Bereich war das üblich, etwa bei den noch eine Zeit lang fortgeführten Kennkarten.

Im Fall der katholischen Stadtpfarrkirche Sankt Michael kann man in der "entnazifizierten" Höhenmarke auch ein Symbol für den Sieg sehen, den die römisch-katholische Kirche im "Kirchenkampf" mit dem totalitären NS-Staat errungen hatte. Auch in Oberndorf standen sich Kirche und Partei in vielen harten Konflikten gegenüber. Am Ende triumphierte – wenn auch der bitteren Not der totalen Niederlage – die Kirche über die Partei. Der Kirchturm steht damit - symbolisch gesehen - auch bis heute auf dem Fundament dieses Sieges in einem historischen Ringen.

An die Stelle des Hakenkreuzes trat in Oberndorf am Neckar im Jahr 1945 als Zeichen der französischen Besatzungsherrschaft das so genannte Patricharchenkreuz (oft nicht korrekt als Lothringer Kreuz bezeichnet). Nachdem im Jahr 1940 das Deutsche Reich Frankreich besiegt hatte, wählte die französische Exilregierung in London das Patriarchenkreuz als Gegensymbol zum Hakenkreuz – angelehnt an ein Symbol aus der Geschichte von Elsass-Lothringen.

Als Symbol der "Forces françaises libres" "Freie französische Streitkräfte") wurde es dann auch zum Symbol der ersten Französischen Armee "Rhin et Danube" (Rhein und Donau), die im Frühjahr 1945 den Südwesten des Deutschen Reiches und am 20. April 1945 auch Oberndorf am Neckar besetzte.

So kann also ein kleiner "Zeit-Zeuge" auch in unserer Stadt als "Denk-Mal" von einem großen Ereignis erzählen.

Carsten Kohlmann ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er ist als Museumsleiter und Stadtarchivar in Schramberg tätig. Kohlmann lebt in Oberndorf.