Trost und Wärme haben Heimkinder in den 1960er- und 1970er-Jahren oft vermisst. Foto: Ghirda Foto: Schwarzwälder-Bote

Die Aufarbeitung ihrer Erlebnisse kostet ehemalige Heimkinder viel Kraft / Runder Tisch unterstützt Betroffene

Von Benjamin Klein

Oberndorf. "Wer gibt mir meine Kindheit zurück?" Diese Frage stellen sich viele Menschen, die in Kinderheimen aufgewachsen sind. Eine Frage, die aufzeigt, was lange totgeschwiegen wurde: In jenen Einrichtungen, die ursprünglich ins Leben gerufen wurden, um dem Wohl ihrer jungen Bewohner zu dienen, liegt einiges im Argen. Besonders hart davon getroffen waren jene Kinder und Jugendliche, die in den 50er- und 60er-Jahren in einer solchen Betreuungseinrichtung aufgewachsen sind, wie der im Februar vorgelegte Zwischenbericht des "Runden Tischs Heimerziehung" belegt. Das Gremium wurde im Frühjahr 2009 auf Empfehlung des Bundestags eingerichtet. Bis Ende dieses Jahres soll die Expertenrunde die Geschehnisse in der Heimerziehung im westlichen Nachkriegsdeutschland aufarbeiten. Was im Bericht besonders deutlich wird: Anders als heute waren weder die Einrichtungen selbst noch die Betreuer für die anfallenden Aufgaben gerüstet.

Doch nicht nur Schläge und demütigende Strafen haben den Kindern und Jugendlichen in den 50er- und 60er-Jahren zugesetzt, auch untereinander kam es zu Grausamkeiten. "Wenn man in einem großen See ums Überleben kämpfen muss, ist es egal, wer noch daneben schwimmt", erzählt der Basler Autor Walter Miesch in seinem jüngst beim Kummli-Verlag erschienenen Erstlingswerk "Brämenfass". Der Schweizer, dessen Eltern aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage waren, ihn zu versorgen, hat seine Kindheit im Heim verbracht. "Es gab zu viele Kinder, die es nicht schafften, aber ich habe es geschafft", sagt Miesch. Doch selbstverständlich war das nicht. Er sei ein verschüchtertes Kind ohne Mut und Selbstvertrauen gewesen. "Mich gab es eigentlich nicht, und doch war ich da. Die vielen Schläge, meist ohne Grund, zeigten mir doch, dass ich existierte."

Doch was tun, um den Betroffenen nachträglich zu ihrem Recht zu verhelfen? "Die Debatte um die Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre beschäftigt die Öffentlichkeit schon seit einigen Jahren", begründet Antje Vollmer, Vorsitzende des "Runden Tischs Heimerziehung", die Arbeit des Gremiums. Über 400 Betroffene haben sich laut der Grünen-Politikerin bereits gemeldet. Sämtliche Schilderungen seien in den Zwischenbericht aufgenommen worden. Immer wieder ist von "Züchtigung" und "Zwängen" die Rede, "beides stand auf der Tagesordnung", heißt es im Bericht des Runden Tischs. Einrichtungsübergreifend setzte das Personal Erziehungsmethoden ein, die Gewalt und Einschüchterung als Mittel enthielten – sogenannte "Schwarze Pädagogik". Die Soziologin Katharina Rutschky führte diesen Begriff 1977 ein, und beschrieb die Methodik mit dem Wunsch der Erzieher, Menschen durch Abrichtung formen zu können, wie man es mit Tieren praktiziert. Dazu passt die Tendenz, Charaktere durch Entindividualisierung gefügig zu machen. Derartige Vorgehensweisen sind auch Miesch bekannt: "Wir hatten alle das gleiche zum Essen, zum Anziehen, ja sogar zum Spielen", erzählt der Autor. Doch damit nicht genug: "Ich hatte überhaupt nichts, was nur mir gehörte, außer der Nummer anstelle des Namens." Miesch trug die 138 – Nummer statt Name. Wie bei Häftlingen. Und wie zahllose Strafgefangene suchte der Namenlose bei Gott eine Zuflucht, die es aus seiner Sicht vermochte, die Qualen des Alltags für einen kurzen Moment auszublenden. "Ich gab nicht alle Gefühle diesem lieben Gott, aber meine Tränen, meine innersten Gedanken." Ihm, dem Herrn, habe er klagen und seine Verzweiflung lautlos zu ihm hinauf schreien können.

Eine solche Flucht in den Glauben habe eine Vielzahl ehemaliger Heimkinder bei den Zusammenkünften des Runden Tischs beschrieben, bestätigt Antje Vollmer. "Weil allen Betroffenen gemein war, dass sie keine Möglichkeit sahen, sich bei Außenstehenden über die Missstände in den Heimen zu beklagen, kehrten sie ihre Gedanken zwangsläufig nach innen", so die Politikerin. Hinzu kam in vielen Fällen die Ignoranz, denen sich die jungen Menschen seitens der Erzieher ausgesetzt sahen. Sätze wie "Aus dir wird sowieso nichts" seien keine Seltenheit gewesen. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass Heimkinder verglichen mit Altersgenossen, die bei ihrer Familie aufgewachsen sind, oft schlechter ausgebildet und weniger erfolgreich im Berufsleben sind. Der nötige Zuspruch fehlte und damit auch der Mut, die Missstände anzuklagen – viele Betroffene schwiegen lange.

Auch er habe erst spät die Kraft gefunden, über seine Torturen im Kinderheim zu sprechen, bekennt Walter Miesch. Zuerst wandte er sich an einen Psychologen, nun in Form seines Buches an die ganze Welt. Der Schweizer hat sich seine verlorene Kindheit auf ideellem Weg zurückerobert. Für das ehemalige Heimkind ein kleiner Schritt auf dem Weg zur großen Gerechtigkeit: "Doch die Wärme, die in jenen Tagen im Inneren fehlte, wird wohl nie mehr entflammen."

das buch: Walter Miesch: Brämenfass. Erzählung. Kummli Verlag, Bellach, 80 Seiten, 9,95 Euro.