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Die Stadt bietet wegen der Kälte Notunterkünfte für Obdachlose. Nicht jeder nimmt diese Hilfe an.

Stuttgart - Die sibirische Kälte, die Deutschland im Griff hat, macht vor allem den Wohnungslosen zu schaffen. Die Stadt bietet ihnen an 17 Standorten im Stadtgebiet Notunterkünfte mit insgesamt 114 Plätzen. Aber es gibt auch Härtefälle.

Der Wind pfeift aus allen vier Zugängen der Passage am Rotebühlplatz. Selbst wenn die Temperatur hier unten etwas erträglicher ist als oben - dieser schneidende Wind wirkt zermürbend. Hier hat es gefühlte 25 Grad minus. Vielleicht blickt einer der vier Menschen, die hier betteln und Schutz vor der grimmigen Kälte suchen, deshalb so teilnahmslos vor sich hin. Er antwortet nicht auf Fragen nach seinem Befinden. Er reagiert kaum auf den Euro, der in seinen Pappbecher fällt. Ein leichtes Aufflackern seiner Augen, ein kurzes Zucken seiner Lippen - das ist alles. Mehr Regung geht nicht von ihm aus. Ob er auch die Nacht hier zubringt? Vermutlich.

So ist das Leben

Mit Ja beantworten seine zwei Nachbarn diese Frage. Sie sitzen auf einer dünnen Matte, tragen Turnschuhe und Jogginghosen. Nichts wärmt sie wirklich. Allenfalls der Alkohol, der aus ihren Poren dringt. "Wir schlafen immer hier", sagt der eine, der aus Ungarn stammt. Sein Nebensitzer, ein Slowake, nickt und meint: "C'est la vie."

So ist das Leben. Und das hat es nicht gut mit jenen Menschen gemeint, die in dieser Nacht keine warme Stube finden. Ein Schicksal, das wohl auch eine Osteuropäerin teilt, die ebenfalls hier Zuflucht sucht. Aber auch sie klagt nicht und verliert wenig Worte über die kommende Nacht. "Ja", flüstert sie, "das alles kann einen auffressen."

Zwei Streifenpolizisten, die vorbeikommen, drücken in diesen vier Fällen beide Augen zu. Nicht weil sie ihre Augen vor dem Elend verschließen. Im Gegenteil. Weil es sie anrührt. "Im Sommer würden wir hier wahrscheinlich Platzverweise aussprechen", sagt einer der Beamten, "aber bei diesen Temperaturen schicken wir keinen weg. Das wäre unmenschlich."

"So kalt war es nicht mal in Kitzbühel"

Wie selbst Passanten, die dick einpackt durch die Stadt eilen, diese Temperaturen empfinden, zeigt folgender Dialog:

"Mensch, so kalt war es ja nicht mal in Kitzbühel."

"Doch, oben auf der Gipfelstation"

"Aber im Tal war es angenehmer."

"Stimmt."

Menschen reagieren sensibel auf die Kälte.

"Hartz IV will ich nicht annehmen"

Auch in der Vesperkirche. Allerdings ist hier die soziale Kälte das brennende Thema. Und natürlich herrscht an diesem kalten Mittwoch in der Leonardskirche drangvolle Enge: Bedürftige und Obdachlose wärmen sich an einer heißen Speise. "Wir machen uns vor allem um diejenigen Sorgen, die Alkohol konsumieren", sagt Pfarrerin Karin Ott, "weil wir nicht wissen, ob sie in ihrem Zustand noch in den Notunterkünften ankommen, ohne zu stürzen und liegen zu bleiben, wo sie niemand sieht." Immer wieder gebe es Menschen, die selbst in extremer Kälte darauf beharren, im Freien zu übernachten: "Wir statten sie mit extrem kältetauglichen Schlafsäcken aus."

"Es ist arschkalt", sagt ein 35-jähriger Mann zur Begrüßung. Er wirkt gepflegt. Nichts deutete zunächst darauf hin, dass er kein Dach über dem Kopf hat. Lediglich sein Rucksack, sein Schlafsack und eine Iso-Matte lassen darauf schließen. "Ich bin seit sechs Wochen wohnungslos", sagt er, "das ist eine Situation, die ich weder wollte noch vorhergesehen habe." Also übernachtet er im Freien. Was ihn dazu treibt? Einfache Antwort: sein Stolz. "Hartz IV und alle möglichen anderen Hilfen will ich nicht annehmen." Er will wieder auf die Beine kommen: "Es ist ja alles nur vorübergehend."

Niemand muss im Freien übernachten

Der 40-jährige Rudolf Cisar ist dagegen glücklich, in einem Notquartier unterzukommen. Nach drei Monaten in der Kälte ist er an einer Grenze angelangt. Er kann nicht mehr. Der Hartz-IV-Bezieher ist aus seiner Wohnung geklagt und in einem Hotel untergebracht worden. Aber dann folgte der Totalabsturz. "Nachdem ich meinen Nachbarn als Arschloch bezeichnet habe, hätte ich 360 Euro Geldstrafe bezahlen müssen", berichtet er, "und als ich nicht zahlen konnte, musste ich 36 Tage ins Gefängnis." In dieser Zeit habe die Polizei sein Zimmer geräumt und seinen Besitz entsorgt. Danach landete er in der Zeltstadt im Schlossgarten.

Dabei muss niemand im Freien übernachten. Es gibt 17 städtische Notunterkünften. Die größte ist in der Hauptstätter Straße - dieses Quartier bietet 60 Plätze. "Wir können keinen dazu zwingen, in den Notunterkünften zu übernachten", sagt Stefan Spatz vom Sozialamt. Er spricht von den fünf bis zehn Obdachlosen, die trotz der Angebote in Türeingängen oder auf Lüftungsschächten übernachten. Selbst in so kalten Nächten wie diesen. "Uns ist wichtig, dass alle unsere Angebote kennen", sagt er. Er und die Stadt tun alles, was in ihrer Macht steht. Aber nicht bei allen kommt diese Hilfe an.