Unter Brücken, hinter Häuserfassaden oder in Zelten: Vielerorts sichern sich Obdachlose Plätze in der französischen Hauptstadt Paris, die wenigstens ein Minimum an Privatsphäre ermöglichen Foto: dpa

Ein Viertel der Obdachlosen in Frankreich geht einer Studie zufolge einer Beschäftigung nach – doch ist sie oft zu schlecht bezahlt, um ein würdiges Leben zu ermöglichen.

Ein Viertel der Obdachlosen in Frankreich geht einer Studie zufolge einer Beschäftigung nach – doch ist sie oft zu schlecht bezahlt, um ein würdiges Leben zu ermöglichen.

Paris - Die Frühstückseier werden in einem Topf auf einem kleinen Gaskocher zubereitet. Auch ein Stück Baguette gibt es und ein Glas Marmelade. Es ist kein Campingplatz, auf dem das Zelt steht, aber sein Bewohner lebt hier seit Monaten unbehelligt von der Polizei und den Scharen von Touristen. Die Menschen flanieren zwar nur wenige Meter entfernt von ihm an der Seine vorbei, doch sie sehen ihn nicht, weil er sein Lager auf einem betonierten Bereich unter der Passerelle de Debilly aufgeschlagen hat, einer kleinen Brücke in der Nähe des Eiffelturms. Dort lebt er, im wahrsten Sinne des Wortes am Rande der Gesellschaft.

Überall in der französischen Hauptstadt sichern sich Obdachlose Plätze, die wenigstens ein Minimum an Privatsphäre bieten: Sie richten sich in Telefonzellen ein, an geschützten Häuserfassaden, unter Brücken manchmal in modernen Zelten, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden. Im Winter suchen sie oft Schächte, aus denen warme Luft kommt.

Die Zahl der Menschen ohne Obdach steigt in Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU, seit Jahren kontinuierlich an: Dem nationalen Statistikamt Insee zufolge verdoppelte sie sich zwischen 2001 und 2011 auf 130 000, davon 30 000 Kinder.

Rund 3,6 Millionen Menschen leben in prekären Verhältnissen. Nun kam die Behörde in einer neuen Studie auf ein weiteres überraschendes Ergebnis: Ein Viertel der Menschen ohne festen Wohnsitz in Frankreich gehen einer Arbeit nach. 66 300 betroffene Erwachsene im ganzen Land wurden dazu befragt.

Bei den Beschäftigungen handelt es sich „fast ausschließlich um wenig qualifizierte Jobs“, schreiben die Autoren der Untersuchung. Sehr häufig sind es Teilzeit- oder saisonal begrenzte Stellen. Vom gesetzlichen Mindestlohn, der in Frankreich bei 9,53 Euro pro Stunde liegt, profitieren sie nicht. Oder sie arbeiten so wenige Stunden, dass der Lohn zu gering ist, um davon eine Miete zu bezahlen – gerade in Paris, einem der teuersten Pflaster Europas, trifft es viele.

Und so wächst auch hier das Phänomen der „armen Arbeiter“, die sich trotz eines Einkommens keine Wohnung leisten können. Eigentlich ist es mehr aus Ländern bekannt, die ein weniger ausgebautes Sozialnetz haben als Frankreich, wo weniger Menschen unter der Armutsgrenze leben als im europäischen Durchschnitt. Einem neuen Gesetz zufolge muss jede Stadt mindestens 30 Prozent an Sozialwohnungen bereitstellen. Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot. Die Wartelisten sind lang.

Und so tauchen am frühen Morgen manchmal Menschen mit einer Zahnbürste und einem Handtuch an den Wasserspendern auf, die in vielen französischen Parks stehen und putzen sich dort diskret die Zähne. Oder sie nutzen die öffentlichen Toiletten für eine Katzenwäsche, um ordentlich auszusehen, wenn sie zur Arbeit gehen. Damit dort keiner sieht, dass sie keine Dusche haben, kein Badezimmer. Und eben keine Wohnung.

„Natürlich schämt man sich und will verheimlichen, wie tief man gefallen ist“, sagt Jean-Claude, der selbst auf der Straße lebte, bevor er in einem Aufnahmezentrum der Hilfsorganisation „L’Armée du Salut“ (Heilsarmee) unterkam und nun zu den wenigen Betroffenen gehört, die bereit sind, gegenüber Medien über ihr Schicksal zu berichten. Er habe immer versucht zu arbeiten, einen Fuß innerhalb der Gesellschaft zu halten. „Das ist eine Frage des Typs“, sagt der 59-jährige Landschaftsarchitekt. „Manche lassen die Schultern hängen und geben auf. Das ist verständlich. Aber ich habe mich immer durchgebissen.“

Zunächst hat auch er den Teufelskreis erlebt, der für viele Menschen auf der Straße endet: Erst verlor er seinen Job, dann die Wohnung, machte Schulden und fand kein neues Zuhause mehr. Trotzdem kämpfte Jean-Claude weiter, bemühte sich um Aushilfsjobs, ging zu Bewerbungsgesprächen. Schon wegen seines Alters standen seine Chancen meist schlecht. Oder die Einstellung scheiterte an einer Wohnadresse, die er nicht liefern konnte. „Ohne Adresse existiert man nicht. Man ist nur eine Wolke, die vorbeischwebt“, beschreibt er dieses Gefühl.

Heute hat Jean-Claude ein Postfach bei seiner Unterkunft und sogar einen festen Job: Bei der Hilfsorganisation Emmaus, die 1949 vom katholischen Priester Abbé Pierre ins Leben gerufen wurde und sich der Armutsbekämpfung nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ verschrieben hat, macht er kleinere Elektroreparaturen. Bezahlt wird er nach dem Mindestlohn, aber nur für 25 Stunden pro Woche. Ein Viertel seines Gehalts fließt in seine Unterkunft. „Ich habe großes Glück“, sagt er. „Denn zumindest habe ich jetzt eine.“

Der Insee-Studie zufolge arbeitet die Mehrheit der obdachlosen Männer auf dem Bau oder im Hotel- und Gaststättengewerbe, die Frauen sind oft als Putz- oder Pflegekräfte in Privathaushalten angestellt. Gut jeder Fünfte hat dabei keinerlei vertragliche Absicherung. Für eine Mehrheit besteht das Haupteinkommen in der Sozialhilfe, die bis zu 475 Euro monatlich für eine Einzelperson ohne Kinder erreichen und mit einem kleinen Arbeitseinkommen aufgebessert werden kann.

Während 85 Prozent der Wohnungslosen weniger als 1200 Euro im Monat verdienen, haben 60 Prozent nicht einmal 900 Euro zur Verfügung und leben damit trotz ihres Jobs unter der Armutsgrenze, die in Frankreich bei 977 Euro monatlich liegt.

Doch nicht nur das geringe Einkommen bedingt die Unmöglichkeit, sich eigene vier Wände zu leisten, gerade in Paris mit seinen hohen Lebenshaltungskosten und Mietpreisen. Vor allem in den Metropolen mit Wohnknappheit verlangen Vermieter von potenziellen Mietern oft umfangreiche Bewerbungsmappen inklusive Gehaltszettel und Angabe von Bürgen für den Fall eines Zahlungsausfalls. Wer keinen unbefristeten Vertrag vorzeigen kann, hat oft das Nachsehen gegenüber besser gestellten Mitbewerbern.

Doch gerade eine prekäre Wohnsituation macht es vielen Menschen unmöglich, Fuß in der Arbeitswelt zu fassen. 40 Prozent aller Obdachlosen in Frankreich suchen der Studie zufolge Arbeit, scheitern aber oft schon vor einem Bewerbungsgespräch an den Kosten für die Anfahrt, an der Jobsuche per Internet und Telefon oder an angemessener Kleidung. Ein Drittel nennt als Handicaps gesundheitliche Probleme, schlechte Sprachkenntnisse und Probleme beim Lesen und Schreiben.

Von den „armen Arbeitern“ ohne festen Wohnsitz schlafen nicht alle in Autos, Zelten oder auf der Straße. Manche bekommen von Hilfsorganisationen möblierte Hotelzimmer gestellt, andere kommen zumindest zeitweise in Notunterkünften unter. „Je stabiler die Wohnsituation, desto höher ist der Anteil der Berufstätigen“, folgert die Studie.

Trotz des milden Winters zählte die Hilfsorganisation „Tote in den Straßen“ im vergangenen Jahr insgesamt 453 Menschen, die draußen starben. „Diese Liste ist nicht vollständig“, heißt es dabei: „Viele Tote bleiben unbekannt.“