Der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Foto: Leif Piechowski

16 Jahre lang stand OB Schuster an Stuttgarts Spitze. Im Interview spricht er über die Amtszeit.

Seit fast 16 Jahren ist er erster Bürger der Stadt, zum Jahreswechsel tritt Wolfgang Schuster ab. Wir wollten wissen, ob er die Stadt oder die Stadt ihn regiert hat und was er seinem Nachfolger rät.

Herr Schuster, lockere Frage zum Aufwärmen: Was war Ihr größter Fehler im Amt?
Da ich keine Superlative liebe, fällt mir die Antwort darauf schwer. Natürlich gibt es Situationen, in denen man hinterher schlauer ist. Aber wenn wir Bilanz ziehen, dann müssen wir uns alle im Rathaus nicht verstecken.

Was ist wichtiger für einen Oberbürgermeister: Die Verwaltung zu führen? Oder ein Ohr für die Bürger zu haben?
Das sind für mich keine Gegensätze. Wenn ich nicht weiß, was in der Stadt läuft, kann ich schlecht eine Verwaltung führen. Wir sind Dienstleister für die Bürger. Der Bürger hat mir das Mandat gegeben. Er finanziert auch die Verwaltung. Schon deshalb muss ein Oberbürgermeister wissen, was der Bürger will. So weit die Theorie. Das Spannende ist, das in der Praxis zusammenzubringen. Das ist schon deshalb spannend, weil es den Bürger ja gar nicht gibt, weil zum Glück jeder Bürger seinen eigenen Kopf hat.

Anders gefragt: Was liegt Ihnen mehr? Die Verwaltungsarbeit oder mit Leuten zu reden?
Beides. Ich bin jeden Tag in der Stadt unterwegs. Aber ich muss auch die Managementaufgaben wahrnehmen, was nicht immer vergnügungssteuerpflichtig ist. Im Grunde gibt es keinen Lebensbereich, mit dem man sich als Rathauschef nicht beschäftigen muss. Die Bandbreite reicht von der Wiege bis zur Bahre. Egal ob Abfallprobleme, Abwasserthemen oder Zahnvorsorge für Kleinkinder, sie werden mit allem konfrontiert. Deshalb hat man in dem Job auch keine Zeit, alt zu werden.

Sie haben einen Fahrer, einen engen Terminplan. Bleibt da noch Zeit für Kontakt mit einfachen Leuten?
Sicher. Ich rede jeden Tag mit vielen Stuttgarterinnen und Stuttgartern. Natürlich habe ich auch ein privates Umfeld. Aufpassen muss ein Oberbürgermeister aber darauf, dass er eine Einzelmeinung nicht fürs Ganze nimmt. Das Stimmungsbild speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Wir haben bei der Stadt ein Beschwerdemanagement, da kommen pro Jahr an die 5000 Fragen und Anregungen herein. Und wir werten die Medien aus. Ich bin also gut darüber informiert, was die Leute so umtreibt.

Sie werden auf der Straße angesprochen?
Natürlich. Übrigens: Die meisten Leute sind dabei freundlich. Insofern stimmt es nicht, dass die Schwaben nur bruddeln.

Ihnen wurde oft vorgeworfen, Sie wären zu wenig leutselig. Verstehen Sie die Kritik?
Ein Oberbürgermeister könnte von morgens bis abends durch seine Stadt laufen, mit Leuten reden und dann sagen: „Ja, das ist meine Stadt.“ Aber das würde der komplexen Aufgabe nicht gerecht. Es kann schon sein, dass ich meine Arbeit manchmal rational und analytisch angehe. Aber auf lange Sicht betrachtet hat das der Stadt gutgetan.

Als der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, sahen das viele Bürger anders.
Stuttgart 21 ist ein Sonderthema, bei dem auch massive machtpolitische Interessen eine Rolle gespielt haben. Wir verbauen als Konzern Stadt Stuttgart pro Jahr 700 Millionen Euro. Bezogen auf meine Amtszeit sind das über zehn Milliarden. Dabei waren etliche massive Baumaßnahmen in der Stadt, die für die Bürger unangenehm waren. Denken Sie nur an den Bau der Linie 15 nach Stammheim. Aber uns ist es immer gelungen, durch Planungswerkstätten und Diskussion mit den Bürgern Brücken zu schlagen.

Am sogenannten Schwarzen Donnerstag sprachen Sie auf einer Pro-S-21-Demo vor dem Rathaus. Sie sagten mit bebender Stimme: „So was darf in meiner Stadt nie mehr passieren.“
Diese Aussage hat auch heute noch uneingeschränkte Gültigkeit. Von dem Polizeieinsatz habe ich aus den Medien erfahren.

Anderes Thema. Wissen Sie, von wem dieser Satz stammt? „Ich produziere viel Papier, wenn auch nie Literatur.“
Könnte von mir sein. Wann ich das gesagt habe, weiß ich aber nicht mehr.

Vielleicht hilft das weiter: „Schwäbisch Gmünd ist eine Mittelstadt. Doch in Wirklichkeit sind unsere Mittel begrenzt.“
Ich erinnere mich, das war in meiner Zeit als OB von Schwäbisch Gmünd. Die Stadt hat zusammen mit dem Koch Vincent Klink einen kulinarischen Literaturpreis ausgelobt.

Für Ihre Rede sind Sie damals, 1988, gelobt worden. Stammte die aus der Feder Ihres Ziehvaters Manfred Rommel?
Nein, sicher nicht. Manfred Rommel war und ist ein großer Künstler des Formulierens. Ihn kann man nicht imitieren, da würde man sich lächerlich machen.

 

„Vielleicht sind da manchmal die Pointen zu kurz gekommen“

Von einem Theaterkritiker wurden Sie zum „Pointenpolitiker“ gekürt. Das war lobend gemeint. Ist der Pointenpolitiker auf dem Weg nach Stuttgart verloren gegangen?
Um in der Theatersprache zu bleiben: Vielleicht verliert man als Oberbürgermeister manchmal das Spielerische. Ich habe meine Aufgabe immer darin gesehen, die Dinge zusammenzudenken. Es gibt ja viele Leute, die Probleme erkennen. Ich bemühe mich aber herauszufinden, wie die Dinge zusammenhängen, was Ursache und was Wirkung ist. Nehmen wir die kommunale Ausländerpolitik, die ich neu geordnet habe. Irgendwann hatte ich die Idee einer ganzheitlichen Integrationspolitik. Also habe ich mich hingesetzt und überlegt, wie man so etwas hinbekommt, welche Rolle der demografische Wandel und die bisherige Ausländerpolitik dabei spielen und wie man Prozesse steuern kann. Das war einer von vielen Schwerpunkten meiner Arbeit. Vielleicht sind da manchmal die Pointen zu kurz gekommen.

Die Dinge zusammendenken. Zeichnet das einen guten OB aus?
Das ist eine zentrale Fähigkeit, die man für die Tätigkeit braucht. Zu diesem Zweck habe ich im Rathaus runde Tische eingeführt. Da sitzen Leute zusammen, die von ihrem jeweiligen Fachgebiet mehr verstehen als ich und im Zweifel auch unterschiedliche Positionen vertreten. Meine Aufgabe besteht darin, nach Lösungen und Kompromissen zu suchen, die tragfähig sind. Zum Glück hat mir der liebe Gott lange Arme gegeben, die so weit reichen, um die meisten am runden Tisch zu erreichen.

Der Gemeinderat passt nicht an einen Runden Tisch.
Aber meine Aufgabe dort ist im Grunde dieselbe. Ich habe es mit 60 Persönlichkeiten zu tun. Um Lösungen zu finden, braucht man Zeit. Da ist es von Vorteil, dass die Amtszeit eines Oberbürgermeisters in Baden-Württemberg acht Jahre dauert. Man wird vom Volk direkt gewählt, ist also erster Bürger und Repräsentant der Stadt. Außerdem ist man Vorsitzender des Gemeinderats und Chef der Verwaltung. Immer geht es darum, Menschen mitzunehmen. Das ist manchmal anstrengend, gehört aber zum Geschäft.

Ein Fußballtrainer würde sich freuen, wenn er acht Jahre Zeit hätte.
Die lange Amtszeit erlaubt es einem, Stadtentwicklungsprozesse zu gestalten. Ich habe das immer als eine Chance, aber auch als eine Verpflichtung verstanden. Es reicht eben nicht aus in diesem Beruf, von Festle zu Festle zu gehen und mit den Leuten zu schwätzen. Als ich vor knapp 16 Jahren anfing, habe ich einen Fonds gegründet, um damit Vorhaben wie die neue Messe auf den Fildern und das Kunstmuseum am Schlossplatz mitfinanzieren zu können. Die Messe hat zehn Jahre gebraucht, das Kunstmuseum war nach achteinhalb Jahren fertig, die Stadtbibliothek konnte nach 14 Jahre eingeweiht werden. Es ist gut, wenn ein Oberbürgermeister nicht schon nach zwei Jahren daran denken muss, wie er seine Popularität steigert, um wiedergewählt zu werden.

Als wir Sie bei der Eröffnung der Stadtbibliothek beobachtet haben, wirkten Sie stolz wie ein Vater.
Wenn so ein Gebäude nach all den Jahren endlich steht und man das Gefühl hat, dass es gut geworden ist, dann ist das natürlich ein Grund zur Freude.

Die Frau Ihres Vorgängers Manfred Rommel hat mal gesagt: „Ich dachte, mein Mann regiert die Stadt. Doch in Wirklichkeit regierte die Stadt ihn.“ Wer hat Sie regiert?
Natürlich stößt man bei seiner Arbeit manchmal an Grenzen. Und natürlich muss man sich mit dem Kontrollorgan Gemeinderat abstimmen. Aber dennoch sind wir in Stuttgart in einer unglaublich privilegierten Lage, in der man vieles anschieben kann, was andere Städte nicht können. Ich hoffe, dass das noch lange anhält. Aber auch bei uns ist nicht alles perfekt. Und es wird auch nie alles perfekt sein. Das Paradies findet nur im Paradies statt. Regiert hat mich niemand, ich habe meinen eigenen Kopf.

Hand aufs Herz, manchmal hätten Sie den Gemeinderat gern auf den Mond geschossen.
Das ist ökologisch relativ aufwendig. Dafür sind das zu viele.

Noch eine Bemerkung zum Regieren. Inwiefern trifft das Wort auf Ihre Tätigkeit zu?
Es ist immer eine Frage, was man unter Regieren versteht. Es gibt Kollegen, die gern mit ihrer Amtskette auftreten. Das ist nicht meine Welt. Das Großartige an meinem Beruf ist, dass ich jeden Tag etwas Neues lerne. Für mich ist es nach wie vor spannend, dieses Wissen für die Gemeinschaft nutzbar zu machen. Und selbstverständlich muss man auch führen können, wenn man dem Konzern Stadt Stuttgart mit seinen Dutzenden von Unternehmen als OB vorsteht. Wenn Sie unter Regieren allerdings Durchregieren verstehen, dann ist das eine Methode, die nicht nachhaltig ist. Ich habe tausende Mitarbeiter, die von ihrem Fach mehr verstehen als ich. Da muss man überzeugen.

Sie haben das Lernen betont. Sie tun das immer noch, nach all den Jahren?
Sicher. Erst vorhin war eine Delegation aus unserer Partnerstadt Samara im Rathaus. Diese Menschen haben einen ganz anderen Blickwinkel auf diese Welt. Immer wenn ich aus dem Urlaub komme, bringe ich eine lange Liste mit und frage meine Leute, ob man damit für Stuttgart etwas anfangen kann. Im Grunde bin ich mit der Stadt verheiratet.

Weiß das Ihre Frau?
Das weiß Sie. Deshalb hat sie auch viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen. Es wäre schlecht, wenn Sie jeden Abend mit dem Essen auf mich warten müsste.

„Ich werde mich nicht in den Wahlkampf einmischen“

Manche Leute sagen, Sie seien wie ein Schwamm. Sie gehen durch die Welt und saugen auf. Wie nutzt man das für die Stadt?
Indem man mit denen im Rathaus redet, die etwas davon verstehen. So ein Rathaus ist kein statischer Apparat. Hier arbeiten fähige Leute, die sich freuen, wenn sie etwas Neues ausprobieren können. Man muss ständig schauen, wie man die Dinge verbessern kann. Das ist ein permanenter dialektischer Prozess.

Gibt es einen Rat, den Sie Ihrem Nachfolger mit auf dem Weg geben werden?
Die Kandidaten sind alt genug, ihnen muss man keine klugen Ratschläge aufdrängen. Aber ich habe angeboten, dass sie sich an mich wenden können, wenn sie Fragen haben.

Werden Sie eine Wahlempfehlung aussprechen?
Nein, ich werde mich nicht in den Wahlkampf einmischen. Es ist in der Demokratie nicht die Aufgabe eines Amtsträgers, seinen Nachfolger zu bestimmen. Jetzt sind die Bürger gefragt.

Auch keine klitzekleine Wahlempfehlung?
Auch keine kleine. Ich habe in all den Jahren versucht, überparteilich zu arbeiten. Das ist nicht nur eine Frage der inneren Einstellung, sondern auch der politischen Klugheit. Ich will etwas für die Stadt erreichen und nicht Konfrontationen und Blockaden aufbauen.

Was tun Sie, um nach Ihrer Amtszeit nicht in ein Loch zu fallen?
Ich bekomme dauernd Anfragen. Ich schreibe alles auf und entscheide dann im Dezember, was ich machen möchte. Nur der Bundesregierung habe ich schon zugesagt, mich verstärkt im Rat für nachhaltige Entwicklung zu engagieren.

Mancher Politiker wird Unternehmensberater, Repräsentant einer Windkraftfirma oder tritt in eine Anwaltskanzlei ein.
In dem Punkt habe ich schon als Student die Weichen gestellt. Ich hätte bei meinem Vater in einer gut gehenden Anwaltskanzlei einsteigen können. Ich habe damals entschieden, dass für mich das Spannendste die Arbeit für die Bürger ist. Ich wollte etwas gestalten in der Gesellschaft, und da bot sich für mich die Kommunalpolitik an, weil hier Theorie und Praxis dicht beisammen liegen. Für mich gehört die starke kommunale Selbstverwaltung zur Erfolgsgeschichte von Deutschland. Warum ist ein ehemals armer Landstrich wie der unsrige wirtschaftlich so erfolgreich geworden? Welche Mechanismen stecken da dahinter? Da hat die öffentliche Hand eine entscheidende Rolle gespielt. In den neunziger Jahren sah man das anders, da haben neoliberale Ideologen geglaubt, dass man gar keinen Staat braucht. Inzwischen wissen wir, was „good governance“ bedeutet, wie man einen Staat von unten aufbaut und was eine Bürgergesellschaft ist.

Manche Kritiker behaupten, Sie seien investorenhörig.
Ich bin froh, dass es Unternehmer gibt, die in der Stadt investieren. Man muss Investoren einladen, aber sie auch kritisch begleiten, denn der Nachteil einer Immobilie ist, dass sie eben immobil ist. Wenn ein Gebäude schlecht wird, ärgert das die Bürger viele Jahre. Insofern bin ich dem Gemeinderat dankbar, dass er bei Bauwerken oft kritisch nachgebohrt hat.

Aus Ihrer Anfangszeit als Stuttgarter OB ist das Zitat überliefert: „Ich möchte, dass man wieder im Neckar schwimmen kann.“ Wann haben Sie zuletzt im Neckar gebadet?
Die Füße habe ich schon mal reingestreckt. Das Problem ist, dass der Neckar eine Bundesschifffahrtsstraße ist, wo es nur wenig Stellen gibt, die zum Baden geeignet sind. Und dann schwimmen im Neckar immer noch zu viele Bakterien herum, die von uns Menschen produziert werden. Deshalb wird das Gesundheitsamt den Neckar wohl nie zum Baden freigeben, weil es immer sein kann, dass man ein paar Colibakterien erwischt. Man könnte Chlor reinschütten, aber das wäre auch keine gute Idee. Wir als Stadt haben in den vergangenen Jahren massiv in ökologische Projekte am Neckar investiert. Im biologischen Sinn ist der Fluss sauber, das kann man an der Zunahme der Fischarten erkennen.

Ihr Tagesablauf ist gespickt mit Terminen. Gibt es einen Termin, zu dem Sie sich überwinden müssen?
Der Fassanstich auf dem Volksfest ist eine Aufgabe, vor der ich großen Respekt habe. Im Gegensatz zu meinem Kollegen Christian Ude aus München übe ich aber davor nicht. Dennoch habe ich meist weniger Schläge gebraucht als er.