Pauls Klinik-Bettchen (oben links) hat sein großer Bruder Peter verziert mit Fritzle, dem Maskottchen des VfB Stuttgart, und einem VfB-Teddy. Die Brüder sind auch beste Freunde und durch die Horror-Diagnose nach Pauls Geburt noch enger zusammengeschweißt worden. Peter hat seinem Bruder auch ein Tote-Hosen-Shirt geschenkt mit der Aufschrift: "Warum werde ich nicht satt?". Denn Pauls Appetit ist legendär. Unten rechts: Paul im VfB-Stadion. Fotos: Weiger Foto: Schwarzwälder Bote

Ferienbeginn: Warum Pauls erstes Zeugnis ein besonderes Geschenk ist / Schwere Zeit hat die ganze Familie geprägt

Bevor sich alle Schüler in die Sommerferien verabschieden, hat es Noten gegeben. Auch Paul hat sein Zeugnis bekommen – das erste. Dieser Tag war ein ganz besonderer für seine Familie.

Nusplingen. Unmittelbar nach Pauls Geburt hätten wir nie zu träumen gewagt, dass unser Sohn überhaupt einmal eine Schule besuchen würde. Seit bald 30 Jahren schreibe ich für Tageszeitungen und Magazine, als Redakteurin beim Schwarzwälder Boten oder als freie Mitarbeiterin für andere Publikationen des Verlags. Dieser Text ist vermutlich der persönlichste, den ich je geschrieben habe.

Paul kam im Mai 2012 mit einem schweren Herzfehler zur Welt. Einen, für den die Ärzte einen schweren Gendefekt als Ursache vermuteten. Pauls damalige Prognose: wenige Jahre, wenn nicht nur Monate Lebenserwartung. Pauls rechte Herzkammer war doppelt so groß wie seine linke und starr wie Eisen. Das kleine Herz schlug dementsprechend unregelmäßig. Zu schnell, zu langsam, zu viel, zu wenig. "Genießen Sie die Zeit, die Ihnen bleibt", sagte man uns, "es wird nicht viel sein. In die Schule wird er niemals gehen können. Es tut uns leid."

Wie seine blonden Locken ist Paul wild und schwer zu bändigen

So ist es nicht gekommen – ein Umstand, der uns als Familie mit tiefer Dankbarkeit erfüllt. Unser Paulchen ist der Quatschkopf im Haus. Ein Kind, das nie um eine Antwort verlegen ist. Eines, dessen Sätze gern mit "Ja, aber..." anfangen. Kurzum: Pauls Lachen – aktuell meist von irgendeiner Zahnlücke geschmückt – steckt an. Sein knitzer Charme bewahrt ihn vor mancher Gardinenpredigt. Paul sorgt dafür, dass uns allen nie langweilig wird. Entweder er erzählt gerade einen Witz. Oder er probiert (erfolgreich!), ob man mit Ketchup den eigenen Namen schreiben kann. Paul, heute sieben Jahre alt, ist wie seine blonden Locken: wild und schwer zu bändigen. Zum Glück.

Als ich schwanger war, machte ich mir kaum Gedanken darüber, dass mit dem Baby in meinem Bauch etwas nicht in Ordnung sein könnte. Abgesehen von der üblichen Übelkeitsphase ging es mir gut. Wir waren gerade in unser Haus in Nusplingen gezogen und dabei, Terrasse und Garten fertigzustellen. Peter, unser Großer, freute sich riesig auf sein kleines Brüderchen. Alles schien perfekt. Aus heiterem Himmel gab es dann zwei, drei CTG-Untersuchungstermine, bei denen Pauls Herztöne nur schwer zu orten waren. "Das Kind liegt halt etwas ungeschickt", bekam ich zu hören, "machen Sie sich keine Sorgen." Die bohrende Angst nahm ich mit heim. In der Nacht, bevor Paul zur Welt kommen sollte, bekam ich urplötzlich Schüttelfrost. Ich, die Unerschütterliche, die stets pragmatisch einen Plan B aus dem Ärmel schütteln kann. Ich hatte mit einem Mal diffuse Angst um das Baby. "Es muss auf die Welt kommen", sagte ich zu meinem Mann, "da ist etwas nicht in Ordnung." Markus schüttelte beruhigend den Kopf: "Katja, Du bist einfach überreizt. Paulchen hat noch Zeit."

Meine Angst blieb. Spürte ich, dass Paul um sein Leben kämpfte? Am nächsten Tag wurde der kleine Mann geboren. Er war blau wie Tinte und schrie nicht. Paul, dessen Name "Der Kleine" bedeutet. Man nahm ihn zu den üblichen Untersuchungen fort. Als ich ihn wie vereinbart aus dem Hebammenzimmer abholen wollte, lag er unter künstlichem Sauerstoff. "Das Herz arbeitet nicht richtig", sagte mir die Hebamme mit unsicherem Lächeln. "Wir müssen schauen, wie wir weitermachen."

Die nächsten Stunden verliefen wie im Film. Untersuchungen am Fließband. Blutabnahmen. Immer wieder. Das Blut ist zu dick. Die Werte stimmen nicht. Die Sauerstoffsättigung gibt Anlass zu großer Sorge. Paul hat Gelbsucht. Und eine schwere Infektion. Vielleicht auch eine Lungenentzündung. Und eben das Herz... Jede Visite brachte mehr Ratlosigkeit in die Gesichter: "Wir können Ihnen nichts versprechen. Das kann so oder so ausgehen." Wortfetzen, zäh wie Kaugummi, die bis heute in meinem Kopf kleben. Es war mehr als einmal knapp mit Pauls kleinem Leben. Er wurde in eine andere, größere Klinik verlegt. Und gleich darauf noch einmal.

Die Folge eines Gendefekts mit einem komplizierten Namen

Dann die vermeintliche Horrordiagnose: Paul ist sterbenskrank. Das starre Herz offenbar die Folge eines Gendefekts mit einem komplizierten Namen, Überlebenschancen minimal. Belegt wurde das zunächst durch Papierstapel voll mit Blutwerten und Kurven, die ich nicht verstand. Um die wirklich seltene Diagnose zu manifestieren, wollte man unser "Genmaterial" untersuchen. Doch einige Enzymwerte sprachen           schon damals nahezu unumstößlich für das todbringende Urteil.

Obendrein vermuteten die Mediziner, Peter, unser großer Sohn, damals sieben Jahre alt, sei ebenfalls krank. Nur dass bei ihm, wie durch ein Wunder, die Krankheit noch nicht ausgebrochen sei. Ausgang offen. An dieser Stelle fror ich ein. Gedanklich. Körperlich. Vor allem seelisch. Zwei sterbenskranke Kinder? Eine Familie nur auf Zeit? Mein Kopf war tot, ich gelähmt. Unter Schockstarre funktionierte ich nur noch wie ein Roboter. Ganz ehrlich: Viele Erinnerungen fehlen mir bis heute. Ich sprach mit den Ärzten und fragte den Großen Grammatikregeln ab. Irgendwie musste das Leben doch weitergehen! Aber: Konnte es das? Mein Mann und ich stimmten schweren Herzens den aufwendigen Genuntersuchungen unserer ganzen Familie im einzigen Speziallabor Deutschlands zu. Irgendetwas mussten wir doch tun! Paul, mein zartes Männlein mit den riesigen Augen und dem unbändigen Appetit, hing derweil an piepsenden Apparaten und Schläuchen. Peter wurde jeden Tag verängstigter. Wir zogen uns komplett von der Außenwelt zurück, gefangen in einer Klinik-Luftblase. Unfähig, das Unbegreifliche in Worte zu fassen.

Zum Glück hatte Peter irgendwann Ferien, mein Mann einen verständnisvollen Arbeitgeber. Wir lebten auf engstem Raum in einer kleinen Wohnung nahe dem Krankenhaus, im steten Bemühen um so etwas wie Alltag. Als Paul irgendwann auf Abruf einmal heimdurfte, gab man uns Prospekte von Hospizgruppen und Selbsthilfegruppen mit, zur Vorbereitung. Auf das Ergebnis dieser Untersuchungen, das wussten wir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, sollten wir etliche Monate warten müssen.

VfB-Maskottchen Fritzle liebt er ebenso sehr wie Spätzle mit Soße

Und heute? Pauls Herz hat viel Zeit und vor allem viel medizinische Hilfe gebraucht. Aber zwischenzeitlich arbeitet es vollkommen normal. Paul ist ein vergnügter kleiner Junge, er spielt Fußball und tobt für sein Leben gern im Garten. Er liebt Spätzle mit Soße und sein VfB-Maskottchen "Fritzle". Weder er noch sein großer Bruder tragen den Gendefekt in sich, das haben die Untersuchungen dann nach langem Hin und Her, nach Monaten an Wartezeit ergeben. Paul litt an einem angeborenen Herzfehler, der aber häufig tödlich endet. Bis heute lassen wir sein Herz engmaschig untersuchen. Als Peter unlängst wachstumsbedingt mit zu hohem Pulsschlag zu kämpfen hatte, dachte ich: "Nein. Bitte nicht noch einmal." Doch auch das fügte sich wieder.

Alles gut also? Ja und nein. Die Monate nach Pauls Geburt und die Angst um die beiden Jungs haben uns alle tief geprägt. Gesunde Kinder sind ein Geschenk, dafür sind wir jeden Tag dankbar, wohlwissend, dass nicht allen Eltern so viel unsagbares Glück beschieden ist. Eine zwei Minus in einem Diktat ist niemals Anlass für eine Familienkrise! Unsere Geschichte hilft uns bis heute, Dinge zu relativieren. Was ist wichtig und was nicht?

Peter, unseren ohnehin sehr vernünftigen Großen, inzwischen 14, haben der lange Klinikaufenthalt seines Bruders und die Angst ums eigene Leben ein Stück Kindheit gekostet. Als er wieder in die Schule ging, hat er viele Sorgen seiner Klassenkameraden nicht mehr verstanden. Peter war mein erster Ansprechpartner, als mein Mann wieder arbeiten musste. Er hat seinen Bruder in den Schlaf gewiegt, wenn ich nicht mehr konnte, oder Kartoffeln geschält, damit wir etwas zu Mittag hatten. Für all das bin ich ihm zutiefst dankbar.

Paul badet gerade im Pool und quietscht vergnügt. Mit einem leisen Lächeln denken wir an unseren freundlichen Oberarzt in der Klinik, einen Mann, der wenig sprach und neben unglaublichem medizinischem Wissen viel gesunden Menschenverstand in seine Arbeit einbrachte. "Ein anderes Baby hätte all das nicht geschafft", sagte er uns zum Abschied, "der kleine Mann wird Ihnen noch viel Freude bereiten. Aber merken Sie sich eins: Er hat einen sehr starken Willen."