Die Preisträgerin des Prima!-Preises, Sinja Manck, mit der Festschrift . Foto: Peter Petsch

Nora Kräutle bekam vor 100 Jahren ihre Diplom-Urkunde. Dazu hat die Universität Stuttgart eine Jubiläumsschrift herausgegeben.

Stuttgart - Nora Kräutle (1891–1981) begann ihr Studium im Wintersemester 1911 – zu einer Zeit, in der es noch höchst umstritten war, dass Frauen eine gleichwertige Bildung wie Männer genießen durften. Die Universität Stuttgart würdigte am Donnerstag ihre erste Absolventin, die vor 100 Jahren an der damaligen Technischen Hochschule zu Stuttgart ihr Diplom im Fach Chemie erhielt. „Nora Kräutle war die erste weibliche Absolventin in Stuttgart und gehörte zu den frühesten Chemikerinnen deutschlandweit“, sagte Nicola Hille vom Gleichstellungsreferat der Universität Stuttgart. Sie stellte bei der Feier an der Universität Stuttgart die von ihr und der Gleichstellungsbeauftragten Gabriele Hardtmann herausgegebene Jubiläumsschrift vor.

„Nora Kräutle kam aus einer gutbürgerlichen Familie, sonst wäre die Finanzierung eines Studiums nicht möglich gewesen“, sagte Nicola Hille. Bei ihren Nachforschungen kam heraus, dass Nora Kräutle am Königin-Charlotte-Gymnasium zur Schule ging, ihr Abitur jedoch im Jahr 1910 an einem Gymnasium für Jungen in Cannstatt machte. „Es war noch nicht üblich, dass Mädchen das Abitur machten“, sagte Hille. Im 19. Jahrhundert hatten nur vereinzelt gut situierte Frauen mit Sondergenehmigungen studieren dürfen oder als Gasthörerinnen den Vorlesungen gelauscht. Die frühe Frauenbewegung hatte jedoch damals schon ein besonderes Augenmerk auf die Bildungsmöglichkeiten der Frauen geworfen, wie in der Jubiläumsschrift zu lesen ist. Die Hauptvertreterinnen der Bewegung, Henriette Goldschmidt, Louise Otto und Auguste Schmidt, gründeten 1871 in Leipzig pädagogische Ausbildungsstätten.

Doch es sollte noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dauern, bis an den deutschen Hochschulen Frauen zugelassen wurden. Den damals weit verbreiteten Vorurteilen und Zweifeln an den Fähigkeiten der Frauen für ein Studium zum Trotz legte Nora Kräutle ihre Prüfungen mit Auszeichnung ab. Anschließend promovierte sie und bekam bereits ein Jahr später den Doktortitel verliehen. „Sie war damit auch die erste Frau in Baden-Württemberg, die an einer Technischen Hochschule den Titel Doktoringenieur erhielt“, sagte Nicola Hille. Ihre Dissertation hatte Nora Kräutle zu dem Thema „Kolloidchemische Untersuchung über den Salepschleim“ geschrieben. Bis 1933 promovierten an der Universität Stuttgart nur 24 Frauen – 16 davon in Chemie. Die erste ordentliche Professorin kam aber erst im Jahr 1978 an die Universität Stuttgart.

Nora Kräutle bekam eine Anstellung bei der Hoechst AG – damals eines der größten Chemie- und Pharmaunternehmen Deutschlands. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Doch mit der Hochzeit fand ihre Karriere ein Ende. Der begabten Frau wurde nahegelegt, das Unternehmen zu verlassen. Es war damals nicht üblich, dass ein Ehepaar bei derselben Firma tätig war. Nach der Geburt ihrer Kinder war Nora Kräutle nicht mehr berufstätig. „Die Zeit war damals noch nicht reif“, so Nicola Hille.

100 Jahre nach ihrem Abschluss wurde das Wirken der ersten Absolventin nun im Beisein ihrer Kinder, Enkel und Urenkel gewürdigt – und zu diesem Anlass erstmalig auch der Prima!-Preis zur Ehrung herausragender Abschlussarbeiten von Absolventinnen der Uni Stuttgart verliehen. Der mit 1000 Euro dotierte Preis ging an Sinja Manck, die ihre Masterarbeit am Institut für Physikalische Chemie schrieb und ihren Abschluss mit Auszeichnung bestand.

Die Jubiläumsschrift „Die Anfänge des Frauenstudiums in Württemberg“ erschien im Franz Steiner Verlag.