In der Tübinger Kinderklinik soll kleinen Patienten bei der Behandlung die Angst genommen werden.
Sie sieht auf ihre Fingerspitze und ist konzentriert darauf, die Möwe zu balancieren. Mit kleinen Bewegungen gleicht sie Schwankungen aus. Dass das Mädchen gerade in der Tübinger Kinderklinik behandelt wird, gerät für sie fast in Vergessenheit. Die Möwe befindet sich in den Jojo-Zaubertaschen, die seit Kurzem in jedem Behandlungsraum zu finden sind. Außerdem sind ein Wimmelbuch, kleine Spiele und ein bunter Zauberstab darin. Das Ziel: die Angst von Kindern nehmen und die Behandlung erleichtern.
Im durchgetakteten Klinikalltag standen „weiche Faktoren“ wie die Angst gerade jüngerer Patienten kaum im Fokus. „Das war unsere offene Flanke“, sagt der geschäftsführende leitende Oberarzt Oliver Heinzel. Darauf einzugehen, erfordere nicht nur einen Kulturwandel, sondern auch eine gemeinsame Sprache. Deshalb haben Kinderärztin Katharina Riebe und Pflegerin Susanne Haase das Projekt „Zauberformel gegen Angst“ initiiert.
Inzwischen haben sie eine Handreichung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammengestellt. Statt pauschaler Hinweise wie „denk nicht daran“ wird konkret zum Beispiel nach dem letzten Urlaub gefragt – das soll positive Gefühle wecken. Sätze wie „Es geht ganz schnell“ sollen nicht mehr fallen, dafür „Wir nehmen uns die Zeit, die du brauchst“.
Eine neue Sprache
Kinderkrankenschwester Andrea Dröber wendet die „neue“ Sprache bereits erfolgreich an. „Früher hat man die Kinder festgehalten und bei Spritzen nur von einem kurzen Pieks gesprochen“, sagt Dröber. Die neue Sprache sei ehrlicher. So werden die kleinen Patienten nicht nur abgelenkt, sondern wenn sie bereits etwas älter sind, erklärt ihnen Dröber auch, dass man eine kleine Menge Blut zur Untersuchung brauche, die für die Behandlung wichtig sei. Als ein achtjähriger Junge im VfB-Trikot kam, erkundigte sich Dröber nach den letzten Spielen und Stadionbesuchen, obwohl sie sich selbst kaum auskennt. „Es geht darum, das Kind abzulenken, die Gedanken in eine positive Richtung zu führen und die Fantasie anzuregen“, so Dröber. So klappte die Behandlung des kleinen Angstpatienten fast im Vorübergehen. Die Mutter habe sich überschwänglich bedankt.
Anerkennen, wenn jemand Angst hat
„Wir müssen die Eltern und Kinder abholen“, sagt Arzt Heinzel. Dazu gehöre es anzuerkennen, wenn jemand Angst habe und das nicht zu beurteilen. Möchte zum Beispiel ein Kind bei seiner Mutter bleiben, ist das erlaubt. „Wir nehmen es nicht weg, wenn das die Behandlung erleichtert“, sagt Heinzel. So könne das Kind zum Beispiel auf dem Bauch der Mutter liegen bleiben, wenn es beide beruhige. Oft sind es einfache Mittel, die helfen. Fragt das Kind, ob es weh tue, werde wahrheitsgemäß geantwortet. „Ja, leider, aber es muss sein, damit du es gut schaffst“, nennt Dröber eine Antwort.
Es geht nicht nur um Blutabnehmen. Röntgen, Rachenabstriche, Verbandswechsel – es gibt viele Situationen, die Kindern, die oft nicht verstehen, was da mit ihnen geschieht, Angst machen können. Und es gibt Kinder, die haben schlechte Erfahrungen gemacht.
Für eine Blutabnahme bei einer Nachkontrolle eines extrem verängstigten Mädchens benötigte Heinzel kürzlich zwei Stunden, obwohl das Vorgespräch bereits eine Stunde dauerte. Zwischendurch gab es einen Spaziergang. „Es hat schließlich ohne Festhalten geklappt“, so Heinzel. Und so möchte das Projekt auch möglichen Traumata vorbeugen oder sie auflösen.
350.000 bis 400.000 Euro an Spenden nötig
„Das hört sich alles wie eine Selbstverständlichkeit an. Es wird von unserem Gesundheitssystem aber nicht finanziert“, sagt Heinzel. Deshalb läuft das Projekt über die Stiftung Hilfe für kranke Kinder in der Tübinger Kinderklinik. Für die erste Projektstufe (2025 bis 2027) werden voraussichtlich 350.000 bis 400.000 Euro an Spenden benötigt.
„Nicht jedes Kind hat Angst vor der Behandlung“, sagt Katharina Riebe. Aber für die Kinder, die Angst haben, müsse es Möglichkeiten geben, damit umzugehen. Und diese Möglichkeiten solle jeder kennen und auch beherrschen, der in der Klinik mit Kindern arbeitet. Und im Zweifelsfall, auch für traumatisierte Patienten, die es durchaus gibt, soll noch ein Schmerztherapeut zum Einsatz kommen.
In einem ersten Schritt sollen mit dem Spendengeld daher ein Schmerztherapeut in Teilzeit angestellt werden. Die Suche läuft bereits. Außerdem sollen Mitarbeiter aus Pflege und Medizin für das Projekt teilweise freigestellt werden. Sich vor Behandlungen und Operationen mehr Zeit zu nehmen, koste insgesamt sogar weniger Zeit, vermuten Riebe und Heinzel. Eine wissenschaftliche Begleitung soll unter anderem das herausfinden.