Das Südportal an der Tübinger Straße Foto: Leif Piechowski

Das Einkaufszentrum Gerber nimmt immer mehr Kontur an. Die ersten Fassaden stehen, der Innenausbau hat zum Teil begonnen. Eröffnung für den Handel ist der 22. September 2014.

Stuttgart - Einlass nur mit Karte. Über ein Drehkreuz hinter dem Bauzaun geht es zum Südportal des Gerber an der Tübinger Straße und hinein in die Großbaustelle des Einkaufszentrums. Ein Gabelstapler versperrt den Weg, stößt kleine Dieselwolken in die kalte Dezemberluft. Im Erdgeschoss hängen Kabel von der Decke, ein Bauarbeiter zerteilt Steine unter ohrenbetäubendem Lärm. Die großen Rolltreppen sind bereits zu erkennen, das Betongerippe um einen herum lässt trotz Dunkelheit erahnen, wie später einmal die Ladenzeile angeordnet ist. Wer das Gerber von dieser Seite betritt, steht zuerst an der Fressmeile, dem Food Court. Links zieht der Drogerist dm ein, dahinter Aldi und rechts, groß wie eine Sporthalle, der Lebensmittelriese Edeka.

„Die Läden sind zu 90 Prozent vermietet“, sagt Klaus Betz von der Immobilienabteilung der Württembergischen Lebensversicherung (WL), dem Grundstückseigentümer, und rückt seinen Bauhelm zurecht. Neue Namen will er nicht nennen. Die zweite Ebene ist den Bekleidungsgeschäften vorbehalten. Zwei Drittel der Marken seien noch nicht in Stuttgarter vertreten, heißt es. Von jüngeren Kunden sicher sehnlichst erwartet ist die US-Trendkette Urban Outfitters, die an der Ecke Tübinger/Sophienstraße auf drei Ebenen in das denkmalgeschützte Gebäude einzieht. Die alte Fassade bleibt erhalten. Zum Teil sind die Mieter aber alte Bekannte wie etwa H & M oder Vero Moda, die jüngst eine Filiale auf der Königstraße eröffnet haben. Auf der dritten Ebene macht sich Intersport Voswinkel, mit bundesweit 70 Filialen einer der großen im Sportgeschäft, breit.

Die Treppe führt hinauf auf das Dach des Gerber, wo sich plötzlich eine neue Welt erschließt. In der Mitte erhebt sich ein Lichtschacht, der die Einkaufspassagen erhellen soll. Drumherum lagern Paletten mit Hölzern und Eisenstangen. Auf einem Dachbalken balanciert ein Bauarbeiter. Ringsherum erhebt sich der drei Stockwerke hohe Riegel mit Büros. Zur Sophienstraße hin stehen die Gerippe der fünf Stadtvillen. Wohnen quasi auf dem Dach. Entsprechend eindrucksvoll ist der Blick vom Balkon über die Dächer des Viertels hinweg, vorbei am Tagblattturm bis zur Stiftskirche. 80 Wohneinheiten entstehen hier, von der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung bis zur Doppelhaushälfte. Betz rechnet mit Mietpreisen zwischen 14 und 17 Euro pro Quadratmeter. Für eine 100 Quadratmeter große Wohnung sind also 1700 Euro pro Monat fällig. Das Gerber, das rund 250 Millionen Euro kostet, ist Teil des Anlagenmix, aus dem die WL ihre Rendite für die Kunden erwirtschaftet. Trotz dieser Mietpreise gebe es eine lange Vormerkliste, sagt Thomas Schmid vom Projektentwickler Phönix.

Wo unterhalb der Stadtvillen noch eine Grube klafft, wird später ein Hof mit Bäumen entstehen. Ein Teil des Platzes, auf der einst die Auferstehungskirche stand, nimmt dann das Projekt Sophie ein. Es wird ebenfalls von der WL umgesetzt. Dafür werden im Frühjahr 2014 zusätzlich zwei noch bestehende Gebäude entlang der Sophienstraße abgerissen und mit einem Wohn- und Geschäftshaus samt Kindertagesstätte bebaut. Die Fertigstellung ist für 2015 geplant.

Während die Nachfrage nach Wohnungen und Läden im Gerber gut ist, sind die 7000 Quadratmeter Bürofläche offenbar schwerer an den Mann zu bringen – zumal mit den Projekten Caleido, Casanova und Pauline in unmittelbarer Nähe noch einmal knapp 25 000 Quadratmeter für Büros entstehen. „Das ist in Stuttgart immer eine Herausforderung“, sagt Betz. Erst 1000 Quadratmeter sind im Gerber vermietet. Wer diese nutzt, will Betz nicht verraten. Er hofft trotz des Überangebots in der Stadt, bis zur Eröffnung zumindest drei Viertel der Fläche vermietet zu haben. Auch hier gilt wie bei den Wohnungen: Fertigstellung Ende des Jahres 2014.

Über die breite Fluchttreppe gelangt die Besuchergruppe zum Ausgang Marienstraße. Zum Teil ist das Gesicht des Gerber, in dem einmal 800 Menschen Arbeit finden sollen, gut erkennbar. Die Fassade auf der Seite der Tübinger Straße ist fertig. Der verwendete Muschelkalk orientiert sich an der Sandstein-Fassade des erhaltenen Gebäudes an der Ecke Sophienstraße. Die Steine stammen aus Portugal. Die Bogenfenster sind eingebaut, die Einrüstung entfernt. Etwa 300 Bauarbeiter sind derzeit auf der Baustelle. „Im Moment ist der Innenausbau dran, gleichzeitig wird die Haustechnik installiert“, sagt Bauleiter Serkan Erbas. Das charakteristische Portal mit den geschwungenen Seitenteilen vermittelt Urbanität, auf dem Platz davor soll die griechische Kaffeehaus-Kette Kayak die Plätze im Freien bewirtschaften. Ein riesiges Werbeplakat über dem Eingang fragt: Geht nicht? Doch, es geht.

Wer neben der Baustelle auch das Quartier zwischen König-, Marien-, Paulinen-, und Gerberstraße durchstreift, kann den Wandel förmlich greifen. Auf der Marienstraße, die vor kurzem einen neuen Belag erhalten hat, ist gegenüber vom Gerber-Eingang ein Juwelier eingezogen – zuvor war die Verlängerung der Königstraße nicht gerade eine Adresse für Läden aus dem höherwertigen Segment. Auch entlang der Tübinger Straße, wo es noch viele kleine inhabergeführte Geschäfte gibt, ist die anfängliche Skepsis gewichen. „Das ist eine Belebung für diese Ecke“, sagt etwa Werner Find, seit Jahrzehnten Betreiber der Diskothek Boa.

Mit Skepsis schauen Anwohner dagegen auf den Verkehr. Sie befürchten zum einen Behinderungen durch den Lieferverkehr, der das Gerber vermutlich den ganzen Tag über anfahren darf. In der Tiefgarage entstehen außerdem 650 Stellplätze, von denen 550 öffentlich sind. Die Zufahrt soll hauptsächlich über die Paulinenbrücke erfolgen, über die Tübinger Straße dagegen können nur Büroangestellte und Mieter ihre reservierten Plätze erreichen. Vor dem Portal an der Tübinger Straße fährt ein großer LKW vor. Bauarbeiter laden abgebaute Gerüstteile auf. Zumindest den Baustellenverkehr wird es nicht mehr geben, wenn das Gerber am 22. September 2014 eröffnet.