Bislang hatte Kirsten Boie gezögert, über den Nationalsozialismus zu schreiben. Mit „Dunkelnacht“ ist ihr ein toller Anfang und ein wichtiges Buch gelungen. Foto: dpa/Markus Scholz

Zum ersten Mal erzählt die Jugendbuchautorin Kirsten Boie aus der Zeit des Nationalsozialismus. „Dunkelnacht“ spielt am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte ist wahr – und unglaublich bedrückend.

Stuttgart - Mit Zeitzeugen über den Zweiten Weltkrieg sprechen zu können wird immer unwahrscheinlicher. Solche Begegnungen erleichtern aber gerade jungen Menschen emotional den Zugang zu einem schwierigen Kapitel der deutschen Geschichte. Dass eine bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin wie Kirsten Boie nun erstmals eine Geschichte erzählt, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielt, ist deshalb ein wichtiger Schritt – umso mehr, da Boies Novelle „Dunkelnacht“ eine wahre Begebenheit aus den letzten Kriegstagen aufgreift, die Penzberger Mordnacht.

Namen, die auf Gedenksteinen stehen, macht Kirsten Boie zu fühlenden, handelnden, zweifelnden Wesen, die die Empathie des Lesers herausfordern. „Was einmal passiert ist, kann wieder passieren“, sagt Kirsten Boie zu ihrer Motivation und will wissen, was durchschnittliche Menschen zu Massenmördern und Henkern macht.

Wer die Novelle zur Hand nimmt, hat sich unter Umständen bereits informiert und weiß, dass am 28. und 29. April 1945 in dem Städtchen südlich von München 16 Penzberger Opfer eines sogenannten Endphasenverbrechens wurden – im Schnellverfahren als Landesverräter abgeurteilt und hingerichtet, während im Hintergrund das Feuer der amerikanischen Artillerie schon zu hören war. Und doch folgt man der Erzählung Boies mit angehaltenem Atem, so unglaublich sind die Vorgänge, von denen sie berichtet.

Kirsten Boies jugendliche Helden erleichtern den Zugang

Literatur, nicht Dokumentation ist „Dunkelnacht“. Kirsten Boie ergänzt das historische Personentableau geschickt um drei junge Menschen, die dem Leser die Zeitreise leicht machen. Wie hätte ich gehandelt, gedacht? Unbelehrbar wie Gustl, der sich dem Freikorps Adolf Hitlers angeschlossen hat, um hinter der Front mit diesem „Werwolf“-Haufen Sabotage zu verüben und dem Feind nur verbrannte Erde zu hinterlassen? Aufrecht wie Marie, die mit der unmittelbar bevorstehenden Kapitulation plant und mutig ihren versteckten Vater deckt? Ängstlich wie Schorsch, der zwar nicht mehr so recht an Endsieg und Geheimwaffen glauben will, der aber weiß, dass auf Feindpropaganda und Wehrkraftzersetzung der Tod steht? Geschickt zeigt Kirsten Boie, wie zwölf Jahre unter nationalsozialistischem Einfluss, wie das Rufen nach Hass und Rache das Denken verbogen hatten.

Hinrichtung im Wald

Ein erster Kuss und die Zuneigung zu Marie lassen auch in Schorsch, dem Polizistensohn, die Zweifel wachsen. Warum will der Vater, nachdem am Morgen die „Freiheitsaktion Bayern“ über den Reichssender die Machtübernahme verkündet hatte, auf der Wache Akten verschwinden lassen? Auch Maries Vater hat den Aufruf gehört. Mit dem von den Nazis entmachteten Bürgermeister und anderen Sozialisten macht er sich auf, das nahe Bergwerk vor Sabotage zu schützen und das Rathaus wieder einzunehmen. Das reicht, um nach dem Scheitern der Freiheitsaktion vom Gauleiter Giesler zum Tod verurteilt zu werden. Marie und Schorsch erleben aus einem Versteck heraus mit, wie sieben Männer im Wald von einem vorbeiziehenden Wehrmacht-Bataillon hingerichtet werden. Und Schorsch beobachtet in der folgenden Nacht, wie die Werwölfe wüten, wie keiner aus der Bevölkerung es wagt, sich schützend vor andere zu stellen, bis er fast zu spät eine wichtige Entscheidung trifft.

Kann man unbeteiligt bleiben?

Das erzählt Kirsten Boie wie gesagt spannend, aber auch mit einem feinen Gespür für die psychische Belastung ihrer jungen Helden und ihr aufgewühltes Innenleben. Wie erschöpft sind die Menschen nach sechs Jahren Krieg? Ist die Angst vor dem Feind so groß, dass sie in einer Massenhysterie münden kann? Wie sehr hatten die Nazis jeden zum Befehlsempfänger gemacht, so dass Menschenverstand und eigenverantwortliches Handeln nicht mehr funktionierten? Kirsten Boie stellt wichtige Fragen und sucht mit ihren jugendlichen Helden nach Antworten. Im Ort Penzberg selbst hat die Autorin das Gedenken an die Mordnacht als „sehr zurückhaltend“ erlebt; auch nach 75 Jahren scheinen die Wunden nicht verheilt. Boies Botschaft ist klar: „Penzberg zeigt: Eine unmenschliche Politik betrifft am Ende selbst diejenigen, die glaubten, unbeteiligt bleiben zu können.“

Kirsten Boie: Dunkelnacht. Oetinger-Verlag. 112 Seiten, 13 Euro. Ab 14 Jahren