Dave Gahan – Sänger der Band Depeche Mode Foto: dpa

Dave Gahan, Martin Gore und Andy Fletcher haben den Blues. Auf „Delta Machine“ schlagen Depeche Mode das uralte musikalische Genre kaputt, zerlegen es in seine Einzelteile und setzen es mit den Mitteln des Elektropop neu zusammen.

Stuttgart - „Ich werde allen den Kopf verdrehen, mich von euch Mädchen an die Hand nehmen lassen, und die ganze Welt wird mich als den Hoochie Coochie Man kennen.“ Als Muddy Waters im Januar 1954 Willie Dixons „(I’m Your) Hoochie Coochie Man“ aufnahm, gab er damit ein unerhörtes Versprechen von Sex, Exzess und Ruhm – ein Versprechen, mit dem der Blues seine Unschuld verlor und die Allmachtsfantasien des Rock’n’Roll vorwegnahm.

Knapp sechzig Jahre später hat sich der gleichmütige Shuffle des Delta Blues in einen finster brummenden Synthibass verwandelt, der bedrohlich zittert, als ob er eine Herzrhythmusstörung vertonen wollte. Die Rolle des Hoochie Coochie Man spielt nun Dave Gahan. Auch er will einen an die Hand nehmen, möchte in Träume eindringen, Seelen fangen. Doch die Welt, in der er einen empfängt, ist wüst und leer, und sogar der Teufel hat Reißaus genommen: „All the drama queens are gone / And the Devil got this made / He backed up and fled this town / His master plan delayed“, singt Gahan in „Welcome To My World“, das nach und nach anschwillt zu einer von Störgeräuschen, vibrierenden Synthies und souligen Harmonien begleiteten Hymne auf den Kontrollverlust.

Überall lauert einem der Blues auf

Überall auf „Delta Machine“, dem 13. Studioalbum von Depeche Mode, lauert einem der Blues auf. Da ist der Blueslick, den Martin Gore in „Slow“ anstatt eines Refrains auf der Gitarre spielt und dieser betörenden erotischen Langsamkeitsfantasie ihren hypnotischen Groove vorgibt. Da ist der elektronische Shuffle in „Soothe My Soul“, der wie eine dunkle Spiegelung des Depeche-Mode-Hits „Personal Jesus“ erscheint, wenn Gahan droht: „I’m coming for you / When the sun goes down / I’m coming for you / When there’s no one around“: Wenn die Sonne untergeht, komme ich, um dich zu holen, wenn keiner da ist, komme ich, um dich zu holen.“ Und da ist das knurrige Abschiedslied „Goodbye“, das John Lee Hookers Urban-Blues-Lamenti ins 21. Jahrhundert überträgt, den Gitarrenboogie mit Noiseeffekten aufschreckt, während Gahan davon erzählt, wie ihm seine Seele entrissen wurde.

Andy Fletcher, der bei Depeche Mode hauptsächlich dafür verantwortlich ist, zwischen Sänger Gahan und Songwriter Gore zu vermitteln, hatte schon im Oktober 2012 in Paris bei einem Interview mit unserer Zeitung den Stil des neuen Albums als „elektronischen Blues“ bezeichnet. Dave Gahan hat inzwischen präzisiert: „Wir nehmen die Elemente der Songs und des Songwritings, die aus dem Blues kommen, und stellen sie auf den Kopf“, wird er von seiner Plattenfirma zitiert, „Led Zeppelin haben den Blues genommen und die Lautstärke aufgedreht, die Stones haben ihn schlicht cooler gemacht, und ich denke, wir haben alles dafür getan, ihn komplett zu versauen.“

Eigentlich sind Depeche Mode schon seit den 90ern eine Bluesband

„Delta Machine“ versammelt tatsächlich 13 dysfunktionale, verzerrte, verstümmelte Variationen der Blues-Motivik. Auch wenn diese nicht immer so offensichtlich in den Vordergrund drängt wie in „Slow“ oder „Goodbye“, sondern sich auch mal in minimalistischen Klageliedern wie „My Little Universe“ oder „The Child Inside“, in Synthiestakkatos wie „Soft Touch/Raw Nerve“ oder im flackenden, zuckenden „Angel“ versteckt. Martin Gore, der zehn der dreizehn Stücke auf dem Album geschrieben hat, orientiert sich nicht nur immer wieder beim Songaufbau am Zwölf-Takt-Schema des Blues, er lässt Gahan auch die Rolle des aus den Bluesklassikern bekannten verloren umherirrenden Ich-Erzählers spielen, der von dunklen Visionen heimgesucht um Vergebung fleht, an der Kreuzung zwischen Himmel und Hölle nach seinem Weg sucht.

Wenn es beim Blues tatsächlich um Leidens- und Elendsgeschichten, um in Lieder verpackte Hilferufe geht, dann sind Depeche Mode schon spätestens seit den 1990er Jahren eine Bluesband – seit sie auf Alben wie „Violator“ oder „Songs of Faith and Devotion“ die elektronischen Muster ihrer Songs mit akustischen Mitteln aufbrachen, um vom Verlangen und vom Verderben zu erzählen. Und eigentlich fand die Aneignung des Blues sogar schon 1986 auf dem Album „Black Celebration“ statt. Als sich der Song „Stripped“ zu einem entschleunigten Motoren-Shuffle zur Reise in die Finsternis aufmachte, wurde jedenfalls bereits klar, dass Depeche Mode nicht mehr als die Synthiepop-Milchbubis zu gebrauchen waren, die die „Bravo“ gerne weiterhin in ihnen gesehen hätte.

„Black Celebration“ ist mit seinen drängenden metallischen Beats und den verstörenden Low-Key-Balladen ein auch ohne Singlehits bis heute stilprägendes Industrial-Pop-Album – bitter, düster, paranoid. „Delta Machine“ erweist sich als artverwandt. Auch hier fehlen die großartigen Melodiebögen, die Depeche-Mode-Erfolgsalben wie „Music for the Masses“ mit Songs wie „Never Let Me Down“ oder „Strangelove“ ausgezeichnet haben. Am ehesten findet man diese noch in der gospelhaften Ballade „Heaven“ und in „Secret To The End“, einem der drei Songs, die Dave Gahan beigesteuert hat. Doch lieber versenkt sich das aktuelle Depeche-Mode-Repertoire in dunkel getönte, repetitive Muster und arbeitet sich an der Mensch-Maschine-Dualität ab: Hier die Erdigkeit des Delta-Blues, dort die Kühle der elektronischen Musikmaschinen. Anders als einst Kraftwerk geht es Depeche Mode aber nicht um Entmenschlichung, Entpersonalisierung, darum, die Apparatebediener in Roboter zu verwandeln, sondern darum, der Elektronik das Leiden, das Verzweifeln, das Verlangen, das Träumen – und den Blues beizubringen.