Eltern klagen: Viele Betroffene werden als geistig behindert diagnostiziert und erhalten nicht die richtige Förderung

Stuttgart - 14 bis 15 von 10.000 Schülern leiden unter einer Erkrankung aus dem autistischen Spektrum. Zu diesem Ergebnis kommen die Reutlinger Wissenschaftler Rainer Trost und Hartmut Sautter, die von 2006 bis 2009 Hilfen für Menschen mit autistischem Verhalten erforscht haben und ihre Studie am Montag bei einer Fachtagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll vorstellen. Das sind mehr Schüler als bisher angenommen. Im Südwesten seien das "vorsichtig gerechnet mindestens 2000 Betroffene", sagt Katja Schwarz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen/Ludwigsburg.

Während es für blinde und hörgeschädigte Schüler besondere Hilfen gibt, erhalten noch nicht alle autistischen Schüler eine gute Unterstützung.. Der neuen Studie zufolge besuchen 79 Prozent der Schüler mit der Diagnose frühkindlicher Autismus eine Schule für geistig Behinderte. Doch manche Schüler, die als Kinder als geistig behindert diagnostiziert wurden, schaffen auch Regelschulabschlüsse - bis hin zum Abitur.

Diese Erfolge sind vor allem auf eine spezielle Unterstützung zurückzuführen: die sogenannte gestützte Kommunikation. Dabei steht eine Begleitperson dem autistischen Schüler physisch, verbal und emotional zur Seite. Sie gibt dem Schüler beim Zeigen auf Bilder oder Tippen von Buchstaben auf einer Buchstabentafel oder einem Laptop physische Unterstützung an Unterarm, Ellbogen oder Schulter. Das Stützen unterscheidet sich deutlich vom Führen und ermöglicht dem Schüler, eigenes Wissen und eigene Gedanken zu äußern. Es muss darauf hingearbeitet werden, dass die Stütze allmählich reduziert und möglichst ausgeblendet werden kann. Durch die körperliche Stütze - so eine Erklärung - werden neuromotorische Probleme verringert und funktionale Bewegungsmuster trainiert.

Wie viele Autisten nicht wirklich geistig behindert sind, obwohl sie so klassifiziert wurden, weiß derzeit niemand. Von einer Frühförderung hängen jedoch die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten für Betroffene ab. Ohne gezielte frühe Förderung verharren autistische Kinder in einem Wahrnehmungschaos, sind blockiert und können ihr Potenzial nicht entfalten. Es braucht viel Zeit, Geduld und Kraft, um ihnen bei der Reizverarbeitung zu helfen.

Doch bis heute ist die von der australischen Pädagogin Rosemary Crossley entwickelte Methode von den Schulbehörden nicht offiziell anerkannt. "In der Diskussion wird insbesondere die Authentizität der mit der Methode erzielten Schülerleistungen angezweifelt", antwortete das Kultusministerium 2007 auf eine Anfrage der SPD-Abgeordneten Carla Bregenzer. Diese wollte wissen, warum das Ministerium aus einem Entwurf von Autismusexperten, der bereits öffentlich vorlag, keine offizielle Handreichung mache. 2009 nun hat das Kultusministerium eine überarbeitete Fassung publiziert. Doch darin wurden Aussagen zur gestützten Kommunikation gezielt gestrichen. Das könnte es für manche Betroffenen noch schwieriger machen, die richtige Förderung zu bekommen.

Ob autistische Schüler eine Schulbegleitung erhalten, entscheiden nämlich die örtlichen Sozial- oder Jugendämter. Und diese lehnen die Begleitung häufig ab, so dass Eltern klagen müssen. Dabei bewerten auch Trost und Sautter die gestützte Kommunikation positiv. "Es scheint so zu sein, dass eine beträchtliche Zahl von Lehrerinnen und Lehrern in der gestützten Kommunikation ein tragfähiges Konzept für die Sicherung des Austauschs mit nichtsprechenden Jungen und Mädchen mit Autismus sieht."