Die bisherige Außenministerin Liz Truss löst Boris Johnson ab. Foto: AFP/Adrian Dennis

Premierministerin Liz Truss muss die größte Krise des Königreichs seit 50 Jahren überwinden, kommentiert Peter Nonnenmacher.

Weniger Steuern, mehr Eigenverantwortung jedes Einzelnen, viel weniger Staat: Starken Applaus hat die bisherige Außenministerin Liz Truss für ihre Ansagen von der konservativen Parteibasis bekommen, von der sie jetzt zur neuen Parteivorsitzenden gewählt und damit zur Regierungschefin bestimmt worden ist. Nicht einmal 150 000 Tory-Mitglieder haben diese folgenschwere Entscheidung über den weiteren Kurs britischer Politik, mitten in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten auf der Insel, getroffen. Überwiegend ältere und wohlhabende Torys aus dem Süden Englands, für gewöhnlich national gestimmt und fast ausschließlich weißer Hautfarbe, haben beschlossen, wer das Land durch diese ungewissen Zeiten führen soll.

Was Truss wirklich denkt, dürften die ersten Maßnahmen ihrer Regierung zeigen

Für sie war Liz Truss die richtige Kandidatin bei der Vergabe der Führungsrolle im Staate. Dass sie der EU mehr noch als ihr Vorgänger Boris Johnson die Stirn bieten will, hat ebenfalls Beifall bei den Brexit-Hardlinern gefunden, die in der Tory-Partei mittlerweile den Ton angeben. Versöhnlichere Töne sind kaum zu erwarten in nächster Zeit. Eher gemäßigte konservative Politiker, die ernste Zweifel an Liz Truss und deren Fähigkeiten haben, können nur hoffen, dass die neue Parteichefin sich letztlich als pragmatischer erweist, als sie es im Wahlkampf war – nun, da sie ihr Ziel erreicht hat.

Was Truss wirklich denkt, dürften dabei schon die ersten Maßnahmen ihrer Regierung zeigen. Auch bei der Wahl ihrer wichtigsten Mitstreiter im Kabinett wird sich erweisen, ob ihr an einer umfassenden Repräsentation politischer Meinungen oder doch nur an einer harten ideologischen Linie gelegen ist. Sicher ist, dass die Parteirechte von ihr den unmittelbaren Vollzug ihrer Versprechen erwartet und einfordert. Auf der Gegenseite haben ihre innerparteilichen Kritiker ihr bereits öffentlich in scharfen Worten vorgehalten, sie verfolge eine „katastrophale“ Finanz- und Wirtschaftspolitik und steuere das Land auf einen Abgrund zu.

Die Realität der sozialen und wirtschaftlichen Krise wird schnell alles überlagern

Leicht wird es ihr nicht fallen, nach dem jüngsten Machtkampf und all den verbalen Feindseligkeiten der vergangenen Wochen, ihre Partei zusammenzuhalten. Die politische Kluft in ihrer Partei hat sich wesentlich geweitet und vertieft. Darüber hinaus hat Boris Johnson seine Hoffnung auf eine Rückkehr an die Macht keineswegs begraben. Auch wenn das eine kühne Hoffnung ist: Beliebt ist er bei der Parteibasis immer noch.

Auf noch unruhigere Zeiten wird sich das Vereinigte Königreich jetzt jedenfalls einstellen müssen. Folgt Liz Truss der eigenen Rhetorik, sind enorme Kollisionen abzusehen. Die Realität der sozialen und wirtschaftlichen Krise, der sie bisher entschlossen den Rücken kehrte, wird schnell alles überlagern, in diesem September schon.

Bittere Arbeitskämpfe, vor allem im öffentlichen Sektor, signalisieren einen Herbst und Winter allgemeinen Unmuts. Es drohen Proteste, wie sie Großbritannien seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Millionen Existenzen hängen unmittelbar davon ab, welchen Kurs Truss einschlägt, welchen sie verfolgt. Und während die Opposition bereits vor einem gänzlich unnötigen Handelskrieg mit dem Kontinent warnt, so alle diplomatischen Stricke im Brexit-Streit reißen, sehen Truss’ Kritiker im eigenen Lager den Zusammenhalt der eigenen Union in Gefahr.

Denn in Schottland, dessen Regierung Liz Truss zu ignorieren gewillt ist, regt sich neuer, nationaler Widerstand. Dem liefert der aktuelle Rechtsruck in London frische Nahrung. Wer sich bei den Konservativen von der Ablösung Boris Johnsons einen Neustart erhoffte, dürfte sich diesen Start etwas anders vorgestellt haben.