Flucht vor Krieg und Zerstörung und nicht wissen, wo man unterkommt – das ist eine bittere Erfahrung. Wie viel unerwartet Gutes und Schönes solche traurigen Erlebnisse in sich tragen können, erleben die Ukrainerin Svetlana Kramskaya und mit ihr der Kirchenchor Neuhengstett-Ottenbronn.
Althengstett-Neuhengstett - Svetlanas Zuhause war bis vor Kurzem die ukrainische Stadt Sumy im Nordosten des Landes an der Grenze zu Russland, und somit eine der ersten Städte, die vom Angriff der russischen Armee betroffen war. Über einen Hilfstransport kam der Kontakt zu Nadja Hettich aus Neuhengstett zustande, "sie und ihre Familie begleiten uns seit unserem ersten Tag, dem 13. März, auf deutschem Boden", erzählt Svetlana. Hettich kümmerte sich um die vorübergehende Unterbringung in Neubulach, wo Svetlana und ihre vier Verwandten dauerhaft registriert wurden. Am 6. April konnten sie nach Neuhengstett umziehen ins Haus von Hildegard Horst. In ihrem Haus war eine Wohnung frei geworden, dies hatte sie der Gemeinde gemeldet.
Größter Wunsch: Selbst Orgel spielen
"Ich hab’ die Glocken gehört und bin am Ostersonntag in den Gottesdienst", berichtet Svetlana im Gespräch mit unserer Redaktion, das zusammen mit der Leiterin des Kirchenchors Neuhengstett-Ottenbronn, Evelyn Kurzmann, per Übersetzer-App geführt wurde. Der Gottesdienst und vor allem die Orgelklänge haben sie ungemein beeindruckt. Ihr großer Wunsch ist es, Orgel spielen zu können. "Nach diesem ersten Besuch flogen meine Gedanken die ganze Zeit zur Orgel und zur Kirche", sagt die Geflüchtete. Kramskaya ist Klavier- und Chorpädagogin und bildete an der pädagogischen Hochschule in Sumy Musiklehrer für die Grundschulen aus. Per Online-Unterricht und -Prüfungen hat sie Kontakt zu den Studenten gehalten, die sie vier Jahre unterrichtet und auf den Bachelor-Status gebracht hat. "Als Pädagogin will ich das Begonnene vollenden und einen schönen Schlussakkord in das Schicksal zukünftiger Musiklehrer zu setzen." Den letzten Prüfling hatte sie am Tag des Interviews mit dem Schwarzwälder Boten.
Musik als verbindendes Element
Svetlana Kramskaya und Evelyn Kurzmann haben sich über den Deutschunterricht, den das Familienzentrum Althengstett im Rahmen der Ukrainehilfe organisiert, kennengelernt. "Jetzt hat sich mein Deutschunterricht zu etwas Besonderem entwickelt, weil ich dort diese besondere Person kennengelernt habe, die mich in den Chor eingeladen hat", übersetzt die App die sichtbare Freude von Svetlana, denn das verbindende Element der beiden Frauen ist die Musik, wie sie schnell festgestellt haben. Svetlana nennt es "My dreams, my emotions!" Sie begleitet jetzt den Kirchenchor am Klavier und Kurzmann kann sich voll aufs Dirigat konzentrieren. Ihr Chor sei extrem motiviert durch diese unerwartete Bereicherung der Chorproben, erzählt sie, "sie haben einen Wahnsinnsschritt nach vorne gemacht nach der erzwungenen Corona-Pause, alle spüren, wie sehr Svetlana die Musik liebt". Kramskaya wird auch Orgelunterricht nehmen, hat schon eine erste Schnupperstunde bei Bezirkskantor Martin Hagner in der Calwer Stadtkirche absolviert. "Ich war sehr aufgeregt und musste weinen vor Freude", über den wunderbaren Klang des großen Instruments und die Chance, darauf spielen zu dürfen.
Konzerte und Hochschule gemeinsam besucht
Die beiden Frauen haben gemeinsam schon einige Orgel-Konzerte besucht, in der Aureliuskirche in Hirsau zum Beispiel. Vor Kurzem waren sie in der Hochschule (HS) für Musik und Kunst in Stuttgart bei einer Orgelführung. Die HS hat elf an der Zahl, fünf konnten sie sich anschauen. Der Höhepunkt war das Abschluss-Orgelkonzert der künftigen Kirchenmusiker. "Im ganzen Gebiet von Sumy gibt es nur eine kleine Orgel", berichtet Svetlana. Eine so große wie die in der Stuttgarter Stiftskirche, die sie ebenfalls besucht hatten, habe sie bisher noch nicht gesehen. Und Kurzmann weiß zu berichten, dass die musikbegeisterte Ukrainerin fast täglich übt: am Klavier im Gemeindehaus und auf der Orgel in der Ottenbronner Kirche, weil diese im Gegensatz zur Neuhengstetter Orgel über zwei Manuale und auch deutlich mehr Register verfügt.
"Ein Ort mit talentierten Musikern"
Svetlana ist überrascht, vom Niveau des Kirchenchors, der ja ein Laienchor ist. "In der Ukraine basiert die Chorkunst fast ausschließlich auf volkstümlichem Liedgut." Sie denkt, dass ihr Schicksal sie nach Neuhengstett geführt hat: "Ich bin an einem fabelhaften Ort gelandet, wo talentierte Musiker sind". Sie lerne interessante Dinge, die sie auch in ihrem Beruf weiterbringen und sieht ihre Flucht auch als Chance: "Dass ich in dieses musikalische Umfeld gekommen bin, ist für mich eine Erlösung." Orgel spielen will sie so gut lernen, dass sie bei Gottesdiensten in der Kirche spielen kann, "um mich für die Gastfreundschaft zu bedanken".