Cáit (Catherine Clinch) kommt bei ihrer Tante (Carrie Crowley) an. Foto: Neue Visionen

Im irischen Kinderdrama „The Quiet Girl“ erzählt Colm Bairéad, wie Verwandte mit kleinen Gesten ein vernachlässigtes Mädchen retten.

Unsichtbar zu werden ist schwer, aber Cáit (Catherine Clinch), etwa 10 Jahre alt und das jüngste von vier Kindern, beherrscht diesen Zaubertrick meisterlich. Wenn ihre Geschwister nach ihr brüllen, schmiegt sie sich eng an die Erde, bis das hohe Gras sie wie ein dichter Teppich bedeckt. Nur im Haus klappt das nicht so gut, Cáits Mutter (Kate Nic Chonaonaigh) sieht zwar nicht das Kind, wohl aber dessen schmutzige Fußspur auf dem PVC.

 

„The Quiet Girl“, das in seiner Einfachheit erschütternde Regiedebüt des Iren Colm Bairéad, 2023 im Oscar-Rennen, erzählt von emotionaler Vernachlässigung und Einsamkeit. Im Irland des Jahres 1981 lebt die Landbevölkerung teils erbärmlich. Der kleine Hof von Cáits Eltern ist abgewirtschaftet und düster, der Vater (Michael Patric) ein Spieler und Fremdgänger, die schwangere Mutter überfordert von der Armut, dem Haushalt, den Kindern. Darum beschließen die beiden, Cáit zu Verwandten zu geben – ein herzloser Plan, doch Cáit hat Glück: Bei Tante (Carrie Crowley) und Onkel (Andrew Bennett) erlebt sie das erste Mal Zuneigung und Fürsorge.

Winzige Gesten bedeuten Cáit alles

Eine prekäre irische Kindheit, überschattet von Suff und sozialer Verwahrlosung, schilderte schon Alan Parker vor fast 25 Jahren basierend auf Frank McCourts Bestsellerroman „Die Asche meiner Mutter“. Bairéad stützt sich mit der Kurzgeschichte „Foster“ der Irin Claire Keegan auf eine weniger prominente Quelle, der auf einen kurzen Zeitraum verknappte Plot mit Fokus auf alltäglichen Details ist aber nicht weniger interessant als das große Elendsepos. Wenn Cáits brummiger Pflegevater ihr stumm einen Keks hinlegt oder die Pflegemutter ihr das Haar bürstet, sind das bloß winzige Gesten, doch Cáit bedeuten sie alles.

Das Ausmaß der Armut macht Bairéad auch ästhetisch sichtbar, indem er die schmuddelig graue Wohnung der Eltern mit den wohnlichen Interieurs im Haus von Cáits Onkel und Tante kontrastiert. Mit Cáits Umzug auf deren Hof hellt Bairéad die Bilder auf, wie die Perspektive des Kindes und seiner Pflegeeltern, die selbst an einem harten Schicksal kauen. Ob es für Cáit trotz dieses Wendepunktes ein Happy End geben wird, lässt der Film jedoch offen, so hart es ist.

The Quiet Girl. Irland 2022. Regie: Colm Bairéad. Mit Catherine Clinch, Carrie Crowley. 96 Minuten. Ab 12 Jahren.