Der Boss schiebt Frust, die Spieler sind ratlos und bemühen Ausreden, der Trainer spielt auf Zeit: Der schwächste Qualifikationsstart der DFB-Geschichte nagt am Weltmeister-Nimbus. Joachim Löw verspricht: 2015 wird alles besser!
Gelsenkirchen - So, so, Gibraltar also! Niemand tritt den Spielern von der Affeninsel zu nahe, wenn er sie als Amateure bezeichnet, als bessere Hobbykicker – null Punkte und 0:17 Tore in den ersten drei Qualifikationsspielen sind dafür ein beredtes Zeugnis. Gibraltar also ist am 14. November in Nürnberg der nächste deutsche Gegner, dem über Nacht eine ungeahnte Beachtung und Bedeutung zukommt. Denn die Partie gegen Gibraltar soll die Wende einleiten, mit der Kapitän Joachim Löw das schlingernde Schiff Nationalmannschaft wieder stabilisieren und auf Kurs bringen will und muss.
„Wir werden gegen Gibraltar gewinnen und uns sammeln. Dann kommen ein paar Spieler zurück, und 2015 schlagen wir zurück“, kündigte der Bundestrainer nach dem ernüchternden 1:1 gegen Irland an. Fußballzwerg Gibraltar – der Anker für den Weltmeister? Ein Witz. Doch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) lacht nach dem schwächsten Qualifikationsstart seiner Geschichte niemand mehr: drei Spiele, vier Punkte, Gruppenplatz vier. Plötzlich ist der Weltmeister nicht mehr der Gejagte, sondern selbst ein Jäger – nach einem Ticket für die EM 2016.
Die Tribünennachbarn von Präsident Wolfgang Niersbach berichten anschaulich, wie dem Boss nach dem irischen Ausgleich in der Nachspielzeit die Kinnlade heruntergekippt ist vor lauter Fassungslosigkeit über so viel Naivität in der deutschen Defensive. Niersbach eilte direkt in die Kabine und zeterte: „Das ist total ärgerlich, super ärgerlich.“ Abwehrchef Mats Hummels, der zu spät eingegriffen hatte, gab die Schuld ungerührt weiter: „Da stehen Antonio, Jérôme und ich gegen vier Mann, und drei gegen vier ist halt schwierig.“ Antonio Rüdiger, Jérôme Boateng und Hummels waren also zur Stelle, nur der Letzte aus der Kette fehlte: Erik Durm. Womit der Sündenbock für Hummels gefunden war.
Überhaupt machen es sich die Weltmeister ganz schön einfach, um die Misere zu ergründen. Allerdings nicht alle, Jérôme Boateng etwa mahnte: „Jeder muss sich fragen, ob das genug war.“ Manuel Neuer sagte selbstkritisch: „Das ist kein Pech, das haben wir uns selbst eingebrockt.“ Wie Neuer („Das war mutlos“) wunderte sich Toni Kroos: „In den letzten fünf Minuten haben wir ganz anders gespielt als vorher, mit langen Bällen und so. Keine Ahnung, warum.“ Aber es gab auch Stimmen, die von einer alarmierenden Selbstzufriedenheit zeugen: „Wir haben es hier über weite Strecken sehr gut gemacht“, fand Mario Götze und wurde durch Lukas Podolski bestätigt: „Wir dürfen uns nicht vorwerfen, katastrophal gespielt zu haben.“
Keine Frage, der Weltmeister ist durch den Wind, statt des erwarteten goldenen Herbstes erlebt er den Herbst nach dem Gold. Das mag normal sein, wenn nur 13 der 23 Weltmeister im Kader stehen, weil alle anderen verletzt sind, und wenn die Mannschaft extrem jung ist. Da ist alles mühsam – aber so mühsam? „Grundsätzlich fehlt einigen Spielern noch die geistige und körperliche Frische“, sagte Joachim Löw, „dadurch fehlen der letzte Wille, die letzte Präzision und das letzte Tempo. Da merkt man beim einen oder anderen, dass er die WM gespielt hat.“
Jetzt erhalten Talente ihre Chance, die bei der WM vornehmlich auf der Ersatzbank gesessen oder gar nicht mit in Brasilien waren. Das ist eine super Chance für die jungen Nachrücker, doch Antonio Rüdiger (21), Erik Durm (22), Julian Draxler (21) oder Matthias Ginter (21) fehlt es sowohl an internationaler Erfahrung und Klasse als auch an starken Ziehvätern. „Sami Khedira, Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm haben ganz jungen Spielern Halt gegeben in schwierigen Momenten, auf und neben dem Platz. Die Typen sind im Moment nicht da“, räumte Löw ein. Was auch fehlt: ein Ideengeber wie Marco Reus – gegen das uninspirierte Ballgeschiebe. Und ein Stoßstürmer wie Mario Gomez, der, egal wie, Flanken auch mal verwerten kann.
Das Gefüge ist komplett durcheinander, nahezu jede Position ist geschwächt. Das ist bedenklich, sonst ließe sich womöglich befreiter lachen über den Scherz, der in der Arena auf Schalke die Runde machte. Der Weltmeister, war dort zu hören, kann zurzeit gar nicht auf den EM-Zug aufspringen – wegen des Lokführerstreiks fährt der gar nicht.
Joachim Löw amüsiert das nicht. Am Mittwoch stand er um 8.30 Uhr am Essener Hauptbahnhof und machte den Praxistest. Sein Zug nach Freiburg war aufgrund des Streiks ersatzlos gestrichen, ein Mietwagen war keine Alternative: Löw ist weiter ohne Führerschein. Dumm gelaufen: Am Ende musste er für die 495 Kilometer in eine schwarze DFB-Limousine umsteigen.