Seit dem Fund der sechs toten Geiseln am Sonntag ist Israel in Aufruhr. Es gibt aber auch Demos gegen Verhandlungen mit der Hamas.
Zehntausende demonstrieren seit dem Fund der sechs toten Geiseln jeden Abend für ein Abkommen mit der Hamas zur Befreiung der übrigen Geiseln. Am Montag rief der Dachverband der Gewerkschaften einen Generalstreik aus, den ein Gericht allerdings abkürzte. Und an manchen Fassaden Tel Avivs hängt seit Kurzem ein neues Poster: Fotos der sechs Ermordeten, darüber ein Schwarz-weiß-Porträt des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und die Worte: „Deinetwegen wurden sie ermordet.“
Netanjahu, so lautet ein verbreiteter Vorwurf unter Familien von Entführten, wolle in Wahrheit keinen Deal mit der Hamas, weil ein solcher sein Bündnis mit zwei rechtsextremen Parteien gefährden würde: Deren Chefs drohen mit ihrem Rückzug aus der Koalition, sollte Netanjahu in den indirekten Verhandlungen mit der Hamas erhebliche Zugeständnisse machen.
Das Tikva-Forum will keinen Deal
Doch nicht alle Geiselfamilien sehen das so. Am Montag demonstrierten rund Hundert Menschen in Jerusalem mit einer ganz anderen Botschaft: „Wir hören nicht auf, bis zum Sieg!“, riefen sie, und: „Ein Streik in der Wirtschaft belohnt die Hamas!“ Zu den Organisatoren zählt das Tikva-Forum: Es fungiert als eine Art Konkurrenzorganisation zu dem größeren „Forum der Familien von Geiseln und Vermissten“, das den Kampf für einen Deal anführt. „Tikva“ bedeutet Hoffnung.
Das Tikva-Forum lehnt ein Abkommen mit der Hamas ab, zumindest in der Form, wie es derzeit diskutiert wird: Demnach müsste sich Israel auf eine langfristige Waffenruhe einlassen und seine Armee, die IDF, aus Gaza zurückziehen. Im Gegenzug für die Freilassung von Geiseln, die in mehreren Schritten erfolgen soll, müsste Israel zudem Tausende palästinensische Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen.
„Das Tikva-Forum wird es nicht zulassen, dass unsere Kinder, Eltern und Freunde benutzt werden, um unsere Feinde zu stärken oder es ihnen zu ermöglichen, die Angriffe vom 7. Oktober zu wiederholen“, heißt es auf der Webseite der Gruppe. Eine phasenweise Freilassung von Geiseln lehnen die Familien ab, genau wie den Abzug israelischer Truppen. Und ebenso wie Netanjahu bestehen sie darauf, dass der sogenannte Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten, „die Lebenslinie der Hamas“, unter israelischer Kontrolle bleiben muss.
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant plädiert öffentlich dafür, in der Philadelphi-Frage Flexibilität zu zeigen. Auch führende Vertreter von Armee und Geheimdiensten sollen Berichten zufolge bereit sein, den Korridor aufzugeben.
Nur Druck auf die Hamas bringe Erfolg
Der Sicherheitsexperte Gabi Siboni vom Jerusalem-Institut für Strategie und Sicherheit (JISS) dagegen gibt dem Tikva-Forum Recht. „Man muss sich klarmachen, was ein Abzug der IDF aus Gaza bedeuten würde“, sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. „Die Hamas würde ihre militärischen Kapazitäten wieder aufbauen, und schneller, als wir es uns vorstellen können, hätten wir einen zweiten 7. Oktober.“
Zudem hält Siboni die Erwartung für illusorisch, ein Deal mit der Hamas könnte zur Freilassung sämtlicher Geiseln führen. Zum einen würden manche Geiseln von anderen Terrororganisation wie dem Islamischen Dschihad festgehalten, über die die Hamas keine Kontrolle habe. Und schließlich hält er es für ausgeschlossen, dass Hamas-Chef Yahya Sinwar je bereit sein könnte, sein einziges Druckmittel gegenüber Israel aufzugeben: Berichten zufolge soll Sinwar zum Schutz vor israelischen Angriffen einige Geiseln Tag und Nacht um sich haben. „Israel hat keine andere Wahl, als mehr militärischen Druck auszuüben und zu versuchen, zu Sinwar zu gelangen“, meint Siboni. „Ich halte es für gut möglich, dass die Tötung Sinwars diesen Krieg beendet.“
Ähnlich sehen es die Geiselfamilien vom Tikva-Forum. „Nur Druck auf die Hamas wird alle (Geiseln) nach Hause bringen“, lautet ihr Motto.