Geschafft: am höchsten Punkt der Tour Foto: Zabota

Unser Mitarbeiter Daniel Zabota ist mit dem Fahrrad über die Alpen gefahren. Hier sein Bericht von der Transalp-Tour Baisingen-Lugano.

Nagold/Lugano - Kurz nach sechs, noch ist es kühl. Ich steige auf’s Fahrrad, stelle den Kilometerzähler auf Null. Wie immer. Aber es ist nicht wie immer. Am Ende dieser Fahrt wird der Tacho 522 Kilometer anzeigen. Das ist weiter als von Baisingen nach Nagold. Es ist sogar ziemlich weit. Am Ende der Fahrt bin ich in Lugano in der Schweiz. Das Ziel.

 

Der Plan: Dieses Ziel in fünf Tagen und fünf Etappen zu erreichen, die Transalp-Tour Baisingen-Lugano. Und es hat geklappt, was nicht ganz selbstverständlich ist. Unterwegs kann viel passieren: Pannen, Stürze, ein gefährlicher Wetterumschwung in den Alpen. Es blieb, Gott sei Dank, bei einer Reifenpanne, die allerdings bereits in Horb. Sonst lief’s gut.

Gerade so schön wie an der Adria

Erste Etappe: Baisingen-Bodman. Da die Menschen gerne nach Süden ans Meer fahren, wir Schwaben aber nur das "Schwäbische Meer" haben, nehme ich zwei-, dreimal im Jahr das Rad und fahre an den Bodensee. Im Sommer ist es da grad so schön wie an der Adria oder an der Côte d’Azur. Mein Weg führt nicht schnurgerade wie die A81 nach Süden. Meine Strecke meidet Straßen und Städte, es geht auf Rad- und Waldwegen, am Neckar entlang, an der Prim entlang, über den Dreifaltigkeitsberg, bei Nendingen über die Donau, in die Donauberge bis zum Weiler Wehstetten. Von dort führt der Weg bergab, ins Hegau, entlang der herrlich klaren, mäandrierenden Stockacher Aach, durch erste Obstgärten. Dann kommt Bodman. Es ist der Ort, der von uns aus am nächsten, also am weitesten nördlich liegt. Aber sehr, sehr hübsch, kein Durchgangsverkehr, schönes Strandbad… Diese Etappe ist nahezu die anspruchsvollste: 144 Kilometer, 1400 Höhenmeter.

Tatsächlich ist der Weg das Ziel

Zwischendurch kann man mal fragen, was einen überhaupt dazu treibt, die Alpen von Nord nach Süd mit dem Fahrrad zu durchqueren. Da müsste man aber auch Reinhold Messner fragen, warum er auf den Everest stieg, oder Gabi Schenkel, warum sie gerade mit dem Ruderboot den Atlantik überquerte. Es ist – bei mir – die Lust, etwas zu erleben, Körperliches zu leisten, die Freude am Radfahren und vor allem – mehr zu sehen. Während andere Verkehrsmittel in der Regel nur Start und Ziel verbinden, ist beim Reisen mit dem Rad (aber auch zu Fuß) tatsächlich der Weg das Ziel. Ein Weg, auf dem tausend Kleinigkeiten warten, tausend Details und tausend Sehenswürdigkeiten. Das kann eine Blumenwiese sein, ein pittoreskes Dorf oder eine Burgruine. Die wichtigere Frage: Was links liegen lassen, was sich ansehen? So bin ich dann zum Castello di Mesocco, eine der größten Burganlagen in der Schweiz, hochgeradelt, die bis vor kurzem noch streng geheime Festung Crestawald ist aber ein andermal dran. Obwohl man so viel sieht, geht es mit dem Rad dennoch flott voran.

So wie bei der zweiten Etappe: Bodman-Lindau. Es geht einfach am See entlang, da es an einem Sonntag war, überall viele Radfahrerinnen und Spaziergänger. Gedränge in der Fußgängerzone von Meersburg, Rummel in Friedrichshafen, Festspiele in Langenargen. Am Ende ein ruhiger Sommerabend in Lindau sowie 85 Kilometer und 300 Höhenmeter.

Gepäckthema ist für Radelende enorm wichtig

Zwischendurch will ich durchblicken lassen, dass es in einem Internetshop T-Shirts mit einer besonders reißerischen Aufschrift gibt: "Warum ich ohne Akku fahre? Weil ich es kann!" Ja, noch kann ich es. Beim Verkehrsmittel der Wahl handelte es sich um ein muskelbetriebenes Mountainbike, sozusagen ein M-MTB, mit wenig Gepäck. Das Gepäckthema ist für Radelende enorm wichtig. Man sieht welche mit vorn zwei großen Taschen, Lenkertasche, zwei große Satteltaschen, Zelt, Isomatte, Schlafsack, also, alles zusammen. Mein Gepäck: ein Rucksack mit der passenden Typenbezeichnung "Trans Alpine 30", plus "Oberrohrtasche" für Geldbeutel und Smartphone, das mir als Navi diente. Weil alle Hotels im Voraus gebucht waren, reichte das leichte Gepäck für Wäsche (in den Alpen auch für kaltes, nasses Wetter), Badehose, Vesper, Wasser, Waschzeug und Erste-Hilfe-Set. Das leichte Gepäck ist praktisch, weil man ja als Mountainbiker auch mal einen raueren Weg fahren möchte. Außerdem fällt damit das Verladen in den Zug leichter, mit dem ich dann zurückreisen werde.

Wehrhaft, ohne angriffslustig zu sein

Vor der Rückreise, die dritte Etappe: Lindau-Chur. Nach einem kurzen Stück am See durch Bregenz kommt der Rhein, dem ich von jetzt an fast drei Tage lang folgen werde. Eigentlich geht es bis Sargans erst mal 70 Kilometer geradeaus. Eigentlich langweilig. Zur Zerstreuung bietet es sich an, Störche zu zählen, von denen es reichlich gibt, über die vielen Bunker nachzudenken, von denen es reichlich gibt, weil die Schweiz, im Gegensatz zu uns, wehrhaft ist, ohne angriffslustig zu sein, oder zu rätseln, warum parallel zum Radweg eine Schmalspurbahn verläuft (später nachgeschlagen: Die 1895 errichtete Bahnlinie wurde bei der Regulierung des Rheins benötigt, seit 2008 Museumsbahn). Doch so langsam verengt sich das Tal und die Berge rücken von beiden Seiten näher. Bis Chur mit seiner hübschen Altstadt kamen 111 Kilometer und 300 Höhenmeter zusammen.

Zwischenbilanz: Jetzt bin ich in so richtig in den Alpen. Zugegeben, ich nutze sie als eine Art Spielplatz. Wie so viele. Zu viele, wie manche meinen. Auf jeden Fall sind die Alpen ein sensibles Ökosystem, das durch den Mensch und die Menschen gehörig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der radelnde Mensch fragt sich: Hält die Felswand über mir noch? Durch den Klimawandel sind viele Berghänge instabil geworden. Wo das Eis das Gestein zusammenhält, steigen die Temperaturen. Die Webseite meteonews.ch meldet, die Nullgradgrenze habe im Juli 2022 außergewöhnlich hoch gelegen, nämlich bei 4700 bis 4900 Metern, teilweise bei bis zu 5000 Meter und beendet den Satz mit einem "!". Weniger Regen, weniger Schnee, schmelzende Gletscher – das hat bereits jetzt dramatische Folgen für den Wasserkreislauf in Europa.

Lassen wir uns nicht davon täuschen, dass der Rhein noch rauscht, auf der vierten Etappe: Chur-Splügen.

Die irre enge, spektakuläre Via-Mala-Schlucht

Jetzt wird’s dramatisch: Kurz hinter Chur, in Reichenau, "teilt" sich der Fluss in Hinterrhein und Vorderrhein (die Formulierung ist der Fahrtrichtung geschuldet, logischerweise fließen Hinter- und Vorderrhein an der Stelle zusammen). Ich folge dem Hinterrhein. Vorbei an Bonaduz, Rhäzüns, wo es Mineralwasser und einen Schlossgeist gibt, Rothenbrunnen, Thusis, in die irre enge, spektakuläre Via-Mala-Schlucht. Unbedingt sehenswert, zumal mit Kindern, über die gleiche alte Hauptstraße 13, die Radfahrer nutzen, mit dem Auto erreichbar (nicht verwechseln mit der parallel laufenden Autobahn 13). Danach weitet sich das Tal wieder, gleichfalls sehenswert das Dörfchen Andeer. Doch auf zum nächsten Ort, wo sich der wilde Hinterrhein tief in den Fels gefressen hat: zur Roflaschlucht. Und wieder weitet sich dann das Tal, der tieftürkise Sufnersee taucht auf, von da an ist Splügen nicht mehr weit, nach 60 Kilometern und 1200 Höhenmetern.

Im Sufnersee baden welche, trotz des eiskalten Wassers. Aber man muss ja von Glück reden, dass eiskaltes Wasser, selbst im südlichen Tessin, zumindest noch so weit vorhanden ist, dass man sich die Trinkflaschen füllen kann. Brunnen gibt es überall. Der Radler ist darauf angewiesen, bei heißem Wetter die Trinkflasche mehrmals aufzufüllen, den Tagesbedarf an Wasser, rund vier bis fünf Liter, will man nicht mitschleppen. Erstaunlicherweise sah ich auf dieser Fahrt nirgends das Schild: "Kein Trinkwasser". Entweder die Schweizer sind robuster, oder sie haben wirklich nur reinstes Wasser von den Bergen oder sie sind rechtlich anders aufgestellt, als in Deutschland. Hierzulande heißt es, das Schild sei aus rechtlichen Gründen nötig, weil das Wasser nicht untersucht werde und als Trinkwasser im Sinne der Trinkwasserverordnung gelte. Selbst der Karlsbrunnen, auf der ersten Etappe unterhalb des Dreifaltigkeitsbergs, hat das Schild, trotz klarsten, reinsten Wassers. Ausgerechnet zwischen Iselshausen und Unterschwandorf kenne ich eine Quelle, die den "durst’gen Wanderer" explizit zur Erfrischung einlädt.

Eine Erfrischung ist nötiger denn je

Eine Erfrischung ist nötiger denn je, auf der fünften Etappe: Splügen-Lugano. Hier ist der Höhepunkt der Tour, 2066 Meter, der San-Bernardino-Pass. Geschafft! Das Kaffeechen zu vier Franken ist verdient. Es zeigt sich hier, dass das Training, im Grunde im Frühjahr beginnend, nicht umsonst war. Allerdings war der Anstieg vom Ort Hinterrhein, auch schon 1600 Meter hoch, mit knapp 500 Metern doch nicht so schlimm, zumal es am Morgen noch recht frisch war und der Anstieg ja auf der Nordseite liegt. Jetzt aber mit wehenden Fahnen in den Süden! 1800 Meter bergab, gefühlt ebenso viele Serpentinen, erreichte Höchstgeschwindigkeit 59 km/h (Rennradler sind noch schneller). Die Dörfer heißen jetzt San Bernardino, Mesocco (mit Castello), Lostallo, Roveredo, San Vittore und es ist richtig heiß. Zum Glück verläuft die Strecke meist nicht auf der Hauptstraße 13, sondern auf recht schattigen Radwegen.

Es hat sich gelohnt.

Kurz nach San Vittore sind die Radweg-Schilder plötzlich wieder weg. Vielleicht habe ich auch einen Abzweig übersehen. Der Reisejournalist Franz Lerchenmüller bezeichnete neulich in der FAZ fehlende und missverständliche Markierungen als einer der Geißeln des Radfahrers. Ist so. Mit etwas Glück und der Navigation mit Google, erreiche ich Bellinzona. Man muss sich da noch einmal aufraffen, es hätte an der Stelle gereicht. Aber ich bin nicht am Ziel. Weiter geht es am Ticino entlang (der dem Kanton den Namen gibt), wo es dann in Cadenazzo noch einmal richtig, richtig von 247 Meter rauf nach Monte Ceneri 300 Meter höher geht. Jetzt fahre ich doch auf der Hauptstraße 13, meist gibt es eine Radspur, die Gegend ist jetzt schon städtischer und schließlich kommt nach 122 Kilometern und 1430 Höhenmetern, die Stadt, das Ziel – Lugano. Ganz zauberhaft am Luganer See gelegen. Palmen, Oleander, Dolce Vita in der Schweiz. Es hat sich gelohnt.