Autorin Melissa Müller warf im Rahmen der Nagolder Literaturtage ein besonderes Licht auf eine in doppeltem Sinn verbriefte, fast 70 Jahre dauernde Liebe.
Die 1967 in Wien geborene Journalistin und Schriftstellerin beschäftigt sich schon lange mit Themen um Opfer sowie auch Täter des Nationalsozialismus’, denn „sie gehören zu unserer Geschichte dazu“. Für ihre 1998 international beachtete Biografie „Das Mädchen Anne Frank“ recherchierte die Autorin damals über Monate in Archiven, befragte Zeitzeugen in aller Welt und gab damit auch Impulse für spätere Verfilmungen.
Eben durch jene Recherchen stieß Melissa Müller auf Nanette Blitz, die 1929 in Amsterdam geboren, nicht nur Schulfreundin von Anne Frank war, sondern mit ihr auch im Lager Belsen-Bergen. Nanette Blitz überlebte das Lager und kam dann als Waise zu ihrer Tante nach England. Und dort setzt das jüngste Buch Melissa Müllers „Mit dir steht die Welt nicht still – eine Liebe nach dem Holocaust“ ein – eine Hommage an zwei Überlebende, aber ebenso Zeitzeugnis und „Biografie einer Liebe“ (O-Ton Melissa Müller).
Schicksalhafte Begegnung
1951: Der Budapester Waise John König lässt sich, die Ausreisepapiere für Brasilien schon in der Tasche, von einem Freund zum Besuch einer Gartenparty überreden, die ihn eher langweilt – bis der Blick des Hobbyfotografen das ganz besondere Lächeln einer jungen Frau wahr nimmt. Für Nannette eine Zufallsbegegnung, für John der berühmte Pfeil Amors. Doch er findet zunächst nur unbeholfene Worte. Wie in einer Millionenstadt die junge Frau ausfindig machen? Gegen alle damalige – und britische – Etikette wird der gehemmte John erfinderisch. So verbringen sie die wenigen Wochen vor Johns Ausreise immer wieder Zeit miteinander, aber „Nanne“ bleibt reserviert.
Sie solle „ die Vergangenheit hinter sich lassen, denn die Welt steht ja nicht still“, motiviert die Tante. Doch wie geht das, wenn man immer wieder Angst vor dem Einschlafen hat? Und wie kann eine Liebe wachsen, wenn man von Überlebensschuld geprägt ist?
Schließlich lässt sich Nanne auf einen Briefwechsel mit dem fernen John ein – das berührende authentische Zeugnis macht einen Großteil des Buches aus – und sie spürt die wachsende Vertrautheit.
Wunderschön die von Melissa Müller gelesenen Passagen, in denen John, inzwischen in Sao Paulo, sich irrste Situationen ausmalt, weil er ihre Briefe vermisst. Oder wie er vermittelt: „Wenn Schmerz und Trauma durch die Generationen gehen, kann es die Liebe auch.“
Autorin lernt das Paar kennen
1953 heiraten die beiden – und bleiben fast 70 Jahre zusammen. Durch ihre in den USA erschienene Anne-Frank-Biografie kam Melissa Müller schließlich in Kontakt zu John König und Nanette Blitz, und John sei es gewesen, der anregte, die viele hundert Seiten des damaligen Briefwechsels in einem Buch zu verarbeiten. Da war er schon von Krebs gezeichnet und hatte nur die Befürchtung, dass er seine geliebte, dement gewordene Nanne nicht weiter begleiten könne.
Die rund 70 Zuhörenden dieser Lesung mit eingeblendeten authentischen Fotos waren spürbar angetan von dieser besonderen Liebe nach dem Holocaust, in der Nanne sich darum plagt, warum ihr Vater nach der Besetzung Hollands dennoch lange verschont blieb, und ob Glück nicht Verrat an der verlorenen eigenen Familie sei. Sehr sympathisch geht Autorin Melissa Müller auf Fragen des Publikums ein, ehe sie noch Bücher signiert: Ein beeindruckender, sicher noch lange nachwirkender Abend.