Helmut Raaf Foto: Fritsch Foto: Schwarzwälder Bote

Handel: Helmut Raaf weiß Einkaufstadt Nagold auf einem guten Weg – trotz des gewaltigen Strukturwandels

Ein Leben für den Handel – Helmut Raaf lebt es. 67 Jahre alt ist er mittlerweile. Sein Geschäft, das Schuhhaus Raaf, feiert 2019 sein 100-jähriges Bestehen. Doch es sind unruhige Zeiten: Der Einzelhandel erlebt gerade einen gewaltigen Strukturwandel.

Nagold. Helmut Raaf hat seine Analyse der Situation im deutschen, im baden-württembergischen Einzelhandel in ein dickes Vortragsmanuskript gegossen. Eine Kopie davon drückt er manchem in die Hand, der Multiplikator seiner Ideen sein könnte. Und er trägt den Inhalt überall auch persönlich vor, wo man ihn lässt – hier in Nagold, aber auch in vielen anderen Städten im Land. Irgendwie ein Getriebener.

Das Szenario, das Raaf in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für den stationären Handel entwirft: Im Jahr 2016 machte der Online-Handel hierzulande 44 Milliarden Euro Umsatz – bei 483 Milliarden Euro Gesamtumsatz des Handels. Keine zehn Prozent, aber mit gewaltigen Wachstumsraten. Die längst begonnen haben, die Innenstädte nicht nur der kleinen Städte massiv umzuwälzen. Aber die regionalen Händler können dagegen halten – "mit den richtigen Strategien": durch das Schaffen von Erlebnisräumen, mit dem "Bespielen der Bühne Innenstadt". Mit der Umsetzung neuer Handelskonzepte. Mit dem Wuchern des wichtigsten Kapitals, das stationärer Handel gegenüber der Konkurrenz aus dem Netz hat: Vertrauen. Denn: "Vertrauen ist nicht digitalisierbar."

Helmut Raafs Blick auf Gegenwart und Zukunft fußt auf dem Wissen einer langen Geschichte. "Der Name Raaf ist der älteste überlieferte in Nagold", erzählt er beim Gespräch in seinem Büro – über den Dächern der Stadt. Bis ins Jahr 1373 lässt sich die Geschichte der Familie und des Namens hier zurückverfolgen. Tritt Raaf aus seinem Büro raus auf die Dachterrasse seines Anwesens mitten im Herzen der Stadt, hat er den Blick auf die Stadt. Das Oval der beruhigten Innenstadt mit seinen noch vielen Handelshäusern – "in Familienbesitz!" – sei der Glücksfall der Stadt. Gerade die vielen Textil-Geschäfte "jenseits der üblichen Größe". Echte Flaggschiffe. "Und immer im eigenen Gebäude": gut ausgebaut, gepflegt. Aber trotzdem im schweren Fahrwasser. "Das Jahr 2016 zum Beispiel war extrem schwierig – für Textil und Schuhe in Nagold."

Wenn Helmut Raaf erklären möchte, was den Unterschied zwischen stationärem und Online-Handel ausmacht, bemüht er gerne sein Lieblingsthema: Wein. "Ein guter Wein" – ein toller Spätburgunder aus dem Weinladen von Freundin und Weggefährtin Siegrid Plaschke zum Beispiel – "schmeckt anders, wenn man ihn aus einem Pappbecher oder einem tollen Kristallglas trinkt." Online-Handel – das ist natürlich der Pappbecher; was für den schnellen, billigen Durst. Das Kristallglas – das sei der Bummel durch eine intakte Innenstadt, eine Lust für alle Sinne, vielleicht zu einem tollen Event. Mit Musik in den Straßen, tollen Motiven. Mit vielen Menschen – denn wir alle sind soziale Wesen. "Im Internet trifft man keine echten Menschen." Nur hier, im richtigen Leben.

Das "Weinglas" Nagold funktioniert aus Raafs Sicht extrem gut. "Weil alle hier zusammen arbeiten", um diesen Erlebnisraum mit Leben zu füllen. Ein gut gefüllter Veranstaltungskalender, nicht nur der Stadt, sondern auch der Einzelhändler in ihren Läden. Raafs eigenes Beispiel, sein Schuhhaus: "Ich hatte vor einiger Zeit eine Buchprüfung vom Finanzamt", lacht er. "Alles war okay, nur über eines waren sie gestolpert: der viele Wein, den wir hier verbrauchen." Er konnte den Finanzbeamten aber klar machen, dass das kein Privatvergnügen sei, sondern eben für Kundenveranstaltungen gebraucht werde. "Glühwein zum Lichterfest" zum Beispiel. Sagt ja keiner, dass der Kampf gegen den Online-Handel nicht auch Spaß bringen darf. Ganz im Gegenteil: "Den echten Spaß gibt’s ja online eben nicht." Raaf: "Glückshormone sind unser wichtigstes Verkaufsinstrument im stationären Einzelhandel." Niemand schreit wirklich vor Glück wegen eines Pakets. Aber die Freude wirklichen Erlebens mit anderen Menschen – die sei echt.

Womit man irgendwie beim Thema Öffnungszeiten ist. Ein zwiespältiges Thema, auch für Helmut Raaf. Die Online-Konkurrenz ist rund um die Uhr geöffnet. "Das müssen wir letztlich auch sein."

Indem auch der stationäre Handel Angebote im Internet offeriert, auf die der Kunde 24 Stunden am Tag jeden Tag zugreifen kann. Aber die Läden vor Ort geöffnet? "Der Kunde ist auch hier das Maß aller Dinge", sagt Raaf. Und berichtet, dass jeder Umsatztag die Woche über seit langem immer schlechter wird. "Nur der Samstag wird immer stärker." Nicht nur in Nagold – überall. Daher sei es gut, dass "die Alpha-Geschäfte in Nagold" samstags bis 18 Uhr geöffnet hätten. "Das hat keine andere Stadt im Umkreis."

Aber die übrigen Wochentage? Es habe viele Experimente gegeben, auch die Woche über mit anderen Öffnungszeiten die Kunden in die Läden und Städte zu locken. Ohne je einen durchschlagenden Erfolg verbuchen zu können.

Sonntagsverkäufe? Zwei davon gibt es im Jahr in Nagold, vier wären gesetzlich möglich. Raaf plädiert für den freien Sonntag. Als Kulturgut, als Tag, der die Menschen bremst. Es müsse, dürfe nicht alles durchökonomisiert sein. Stattdessen: "Wir müssen schauen – wo sind wir stark." Und das ausbauen. Für ihn als Schuhhändler bedeute das zum Beispiel: Rückbesinnung auf das Handwerk, wo das Schuhaus Raaf vor knapp 100 Jahren als Schusterwerkstatt einmal her kam. Heute bedeutet das: Helmut Raaf beschäftigt mittlerweile drei Mitarbeiter in seiner orthopädischen Schuhwerkstatt. Auch das kann "Online" nämlich nicht.

Insgesamt sei der Einzelhandel in Nagold aus Raafs Sicht also sehr gut aufgestellt. Der einzige echte Wermutstropfen: "Junge Leute unter 35 Jahren können auch wir nicht mehr erreichen." Die Generation Smartphone, deren Leben fast nur noch online stattfindet.

Die extrem preisaffin agiere, neue Formen der Share- und Secondhand-Kultur suche und lebe. Wie man diese Zielgruppen neu für die Innenstädte begeistern könne? Eine Aufgabe für die nächste Generation, sagt Helmut Raaf. Allerdings würden auch die Jungen von heute irgendwann älter – und wüssten dann wieder Attribute wie "Vertrauen", "Verlässlichkeit", "Qualität" und die eigene Stadt zur würdigen. "Den guten Wein im tollen Glas eben."