Am Ende überwogen die Zweifel - die Angeklagten wurden freigesprochen. (Symbolbild) Foto: Deck

Landgericht kann Widersprüche nicht klären. Opfer hat keine Spuren von Gewaltanwendung.

Tübingen/Nagold. Auch nach fünf Verhandlungstagen war es der Großen Strafkammer am Tübinger Landgericht nicht gelungen, ausreichend Licht ins Dunkel jener Januarnacht zu bringen. Also musste sie die beiden afghanischen Angeklagten vom Vorwurf freisprechen, einen 51-jährigen Freudenstädter in der Gündringer Asylunterkunft vergewaltigt zu haben.

Dem Mann, der am Morgen des 2. Januar dieses Jahres auf dem Nagolder Polizeirevier erschienen war, um anzuzeigen, dass er in der Nacht zuvor von zwei Männern in der abgelegenen Gündringer Asylunterkunft vergewaltigt worden sei, müsse "etwas passiert sein, was er nicht wollte und was ihn zutiefst gedemütigt hat". Das sagte die Vorsitzende Richterin Mechthild Weinland in ihrer Urteilsbegründung, nachdem sie die beiden der gemeinschaftlichen Vergewaltigung beschuldigten Afghanen freigesprochen hatte.

Auf Antrag der Nebenklage war die Öffentlichkeit bei der Zeugenaussage des 51-jährigen, bei den Gutachten und bei den Plädoyers von Staatsanwältin Rotraud Hölscher und der beiden Verteidiger zum Schutz seiner berechtigten intimer Belange, so die Vorschrift in der Strafprozessordnung, ausgeschlossen worden.

Das Gericht und die ermittelnde Staatsanwaltschaft hatten eine Reihe von polizeilichen Zeugen, Hausmitbewohnern, Gutachtern, Spurenauswertern und DNA-Analytikern aufgeboten. Nichts davon konnte "den Mangel an hinreichenden Beweisen" beseitigen, so die Vorsitzende, um die Vorwürfe gegen die 34 und (wohl) 25 Jahre alten abgelehnten afghanischen Asylbewerber "mit der für eine Verurteilung notwendigen Gewissheit" zu untermauern.

Im Gegenteil: Die Widersprüche in den Aussagen des Geschädigten und Nebenklägers, zu den unbezweifelbaren Ergebnissen der technischen Spurenauswertung und zu den noch einmal widersprüchlichen Angaben der Angeklagten konnten nicht entwirrt werden. "Eher sogar noch komplizierter" habe sich der Fall im Laufe der Beweisaufnahme dargestellt, resümierte die Vorsitzende.

Dabei war zunächst nicht nur das Wetter klar: dass es in jener Winternacht fürchterlich geregnet hatte, als der jüngere der Afghanen mit dem 51-jährigen in Iselshausen den Zug verlassen und zur Unterkunft "Im Immenstall" marschiert war. Klar war auch, dass die Ärzte und DNA-Analytiker am Landeskriminalamt im Rektum des Mannes das Sperma beider Angeklagten gefunden und zweifelsfrei identifiziert hatten – aber dazu noch Samenspuren eines unbekannten dritten Mannes. Wobei der Anzeigenerstatter gegenüber der Polizei einen weiteren analen Sexualkontakt verschwiegen und später sogar ebenso abgestritten hatte wie den Analverkehr mit dem älteren der beiden Afghanen. Der habe, so seine Aussage, nach erzwungenem Oralverkehr ejakuliert.

Ob der Mann den jungen Afghanen erst kurz vor dem Aussteigen am Bahnhof Iselshausen kennengelernt hatte oder bereits in der Silvesternacht am Stuttgarter Hauptbahnhof oder gar dort schon fünf Tage vorher, wie der jüngere Angeklagte angab, konnte das Gericht auch nicht klären.

Es gab keine Spuren von Gewaltanwendung in Zimmer 220 oder, bei den späteren Untersuchungen, am Körper des Besuchers. Von gerauchten Joints und von Marihuana-Deals mit anderen Heimbewohnern – wie von dem 51-jährigen behauptet – auch nicht. Die widersprüchlichen Angaben über die Abläufe der sexuellen Handlungen ließen sich gleichfalls nicht zu einem einheitlichen Bild abklären.

Was gesprochen wurde in dieser Nacht und am Morgen darauf, blieb völlig unklar. Dass der ältere Afghane während der ersten angeblichen Vergewaltigung des Mannes durch den jüngeren dessen Handy auf so laute Musik gestellt habe, um die Hilfeschreie zu übertönen, hielt die Vorsitzende Richterin nach Gutachten und sogar nach eigenen Versuchen an verschiedenen Modellen für "völlig ausgeschlossen". Ob 20 Euro für den erhofften Sex bezahlt oder zusätzlich zu einem doppelten erzwungenen Analverkehr erpresst wurden? Auch nicht aufzuklären und zu beurteilen.

Folglich, sagte Mechthild Weinland, sei nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" zu entscheiden gewesen, im Zweifel zugunsten der Angeklagten: "Wir konnten nicht klären, ob etwas gegen den Willen des Zeugen geschehen war. Was da passiert ist, war vermutlich nicht rechtens. Aber das reicht nicht aus. Auf so ungesicherter Grundlage ist keine Verurteilung möglich."

Der jüngere Afghane wurde wegen vier gleichfalls angeklagten Kleidungs--Diebstählen zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten mit Auflage von 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Ansonsten wurden die beiden Asylbewerber noch im Gerichtssaal von den angelegten Handschellen befreit. Zumindest der Ältere wird für die Untersuchungshaft auch aus der Staatskasse entschädigt.