Der neue Eigenbetrieb WiN übernimmt auch den Gebäude-Bestand des Betreuten Wohnens beim Gertrud-Teufel-Seniorenzentrum. Foto: Fritsch

Langfristig sollen auch bezahlbare Mietwohnungen gebaut werden. "Das schafft der freie Markt nicht alleine!"

Nagold - Die Stadt Nagold wird zum 1. Januar 2021 einen Eigenbetrieb "Wohnen in Nagold" (WiN) gründen. Bei zwei Gegenstimmen hat der Gemeinderat der Stadt in seiner jüngsten Sitzung in der Stadthalle den Beschluss dazu getroffen. Chef wird Finanzbürgermeister Hagen Breitling.

Ein wenig überraschen musste der Tagesordnungspunkt schon – Gründungsbeschluss des Eigenbetriebs "Wohnen in Nagold", den der Gemeinderat da zu verhandeln hatte. Noch im Februar hatte Oberbürgermeister Jürgen Großmann die Gründung eines eigenen, städtischen Wohnbauunternehmens in einem damaligen Pressegespräch kategorisch ausgeschlossen. Grund für den Sinneswandel: "Eine veränderte Förderlandschaft", vor allem des Landes Baden-Württemberg. Denn das unterstützt neuerdings gezielt die Kommunen im Land, durch den Bau von Mietwohnungen eigenes, öffentliches Vermögen aufzubauen.

"Es gibt nicht sofort Wohnungen ohne Ende"

Genau das will künftig auch die Stadt Nagold tun. "Es ist soweit, wir betreten Neuland", lautete denn auch das Statement vom OB bei seiner Einführung des Themas im Gremium. Wobei der Schultes all zu großer Euphorie, dass es jetzt eine spontane Schwemme an bezahlbaren Mietwohnungen geben könnte, unmittelbar entgegentrat: Es werde "nicht sofort Wohnungen ohne Ende" geben können. Starten werde der Eigenbetrieb mit dem "Sanieren und Modernisieren bestimmter Wohnungen", die bereits im Bestand der Stadt seien. Erst später werde man voraussichtlich auch in den Neubau von Mietwohnungen einsteigen, weil aktuell "andere Pflichtaufgaben" wie der Ausbau der Kita-Angebote oder die Schulsanierungen die Investitionskraft der Stadt binden würden.

Was im Umkehrschluss klar macht – so auch Großmann ausdrücklich an seine Stadträte gewandt: Die Gründung der WiN ist eine "freiwillige Aufgabe" der Stadt, die aber – wie der OB nach einem entsprechenden Einwand von Günther Schöttle (AfD) präzisierte – ausdrücklich "zur Daseinsvorsorge" gehöre, wie sie eine Kommune für ihre Bürger zu leisten habe. Da der Druck auf den Mietwohnungsmarkt und die Mieten gerade auch in Nagold zunehmend bereits auch mittlere Einkommen unverhältnismäßig belaste, sei es notwendig, hier regulatorisch einzutreten und eigene, bezahlbare Alternativen zu schaffen. Ausdrücklich sei hier, so Großmann, für ihn die österreichische Hauptstadt Wien ein Vorbild, die über Jahrzehnte einen öffentlichen Mietwohnungsbau realisiert habe und heute weit weniger Probleme damit habe, ausreichend bezahlbaren Wohnraum ihren Bürgern zur Verfügung zu stellen; und das zu Mietzinsen, die weit unter dem Durchschnitt vergleichbarer Städte in Europa stünden.

Von den Stadträten erhielt der OB fast ausschließlich Zustimmung: Für Daniel Steinrode (SPD-Fraktionssprecher) beispielsweise sei die Gründung des Eigenbetriebs WiN "ein Schritt in die richtige Richtung", der "einer langjährigen Forderung der SPD" entspräche. Für ihn sei aber auch der baldige aktive "Einstieg in den Neubau" von Wohnungen wichtig – eben weil sich aufgrund der günstigen Zinsen für Kommunen hier langfristig sichere Vermögen in öffentlicher Hand aufbauen ließen. Auch wenn das im Umkehrschluss erst einmal höhere Schulden für die Stadt bedeuten würde.

Instrument der zielgenaueren Förderung

Wolfgang Schäfer (CDU-Fraktionssprecher) wollte soweit erst einmal nicht gehen. Für ihn sei das Instrument "Wohngeld" nach wie vor ein geeignetes Instrument, eine "zielgenauere Förderung" der von zu hohen Mieten betroffenen Haushalte vorzunehmen. Für Investitionen in eigene Wohnungen gebe es für die Stadt Nagold im Augenblick "keine Spielräume", wie auch die – in nichtöffentlichen Sitzungen – bereits begonnenen Haushaltsberatungen für 2021 gezeigt hätten. Hier gebe es "ständige Kostentreiber" für die Stadt, namentlich in der Kinderbetreuung, die Vorrang hätten. Trotzdem sei es gut, so Schäfer weiter, vor dem Hintergrund der veränderten Förderkulisse des Landes "Optionen zu schaffen", um künftig eigene Wohnbau-Projekte starten zu können – gerade auch, das bestätigt auch Schäfer, wegen des aktuellen, extrem niedrigen Zinsniveaus.

Auf der Seite der Befürworter auch Grüne und FDP. Für letztere unterstrich ebenfalls Jürgen Gutekunst – auch ein wenig überraschend mit Blick auf die sonstigen Positionen seiner Partei – dass es wichtig sei, unmittelbar aktiv "in den Neubau von Wohnungen einzutreten" als Stadt, um "echte Alternativen für bezahlbaren Wohnraum" zu schaffen: "Das schafft der freie Markt nicht alleine!"

Allein Günther Schöttle mochte für seine Partei nach dem Scheitern vergangener Jahrzehnte von deutschen Kommunen als Player im Wohnungsmarkt – Beispiel: Berlin – nicht an eine mögliche "Vermögensbildung" in öffentlicher Hand glauben. Und prophezeite "einen Flop", spätestens wenn der aktuelle Bau-Boom "kippt" oder die Zinsen wieder steigen. Auch sei es "unverantwortlich", gerade jetzt, wo "die Schuldenwelle" eh auf die öffentlichen Haushalte zu rolle, sich "solch einen Klotz ans Bein zu binden".

Womit auch klar war, woher die beiden Gegenstimmen kamen, die sich am Ende gegen die Gründung des Eigenbetriebs im Gremium aussprachen. Dem Gründungs-Entscheid folgte mit gleichem Stimmenverhältnis der Beschluss, Finanzbürgermeister Hagen Breitling die Betriebsführung des Eigenbetriebs zu übertragen – wobei er, wie er auf Nachfrage dieser Zeitung erläuterte, dabei von Sabine Wurster und Helga Jöchle unterstützt würde.

Info: Was ist bezahlbarer Wohnraum?

Bei soviel Reden über "bezahlbaren Wohnraum" wollte es Stadtrat Helmut Raaf (CDU) einmal ganz genau wissen: Ab wann ist Wohnraum denn nun wirklich bezahlbar, namentlich in Nagold? Die Antwort übernahm Oberbürgermeister Jürgen Großmann: Die Spanne läge hier "zwischen 6,50 und acht Euro je Quadratmeter" für die Kaltmiete. Größter Vermieter in Nagold sei aktuell die Kreisbau Calw, deren Aufsichtsrats-Vorsitzender Großmann bekanntlich ist, mit einem Bestand von rund 300 Wohnungen. Die Durchschnittsmiete liege hier gar bei "unter sechs Euro". Ansonsten verwies OB Jürgen Großmann auf den kommenden Mietspiegel für Nagold, der nach Auskunft von Planungsamtsleiter Ralf Fuhrländer voraussichtlich zu Beginn des nächsten Jahres vorgelegt würde.

Allerdings: Wie die Stadt Nagold "bezahlbaren Wohnraum" in ihren eigenen Wohnung-Beständen definiere, läge im alleinigen Ermessen des Gemeinderats – der frei sei, die Miethöhen für die städtischen Wohnungen selbst festzulegen.

Info: Das Vermögen des Eigenbetriebs "WiN"

Gleichzeitig mit dem Entscheid zur Gründung eines neuen Eigenbetriebs "Wohnen in Nagold" (WiN) hat der Gemeinderat auch die Plan-, beziehungsweise Eröffnungsbilanz 2020 und die künftige Betriebssatzung verabschiedet. Dabei wird bei genauerer Lektüre der zugehörigen Sitzungsvorlage deutlich, dass der neue Eigenbetrieb auch so etwas wie ein Nachfolge-Eigenbetrieb des "Gertrud-Teufel-Seniorenzentrum" (GTSZ) sein wird, der ja zum Ende dieses Jahres liquidiert, sprich aufgelöst wird. Womit es hier mit der Gründung der WiN zum 1. Januar 2021 einen nahtlosen Übergang geben wird.

Dafür übernimmt WiN neben dem Bestand des GTSZ mit 17 "Betreuten Wohnungen" und das Atriumgebäude auch die Alt-Schulden des GTSZ. Die Zahlen dazu entsprechend in der Planbilanz: dem übertragen GTSZ-Vermögen von 4,446 Millionen Euro (voraussichtlicher Restwert zum 31. Dezember 2020) stehen offene Darlehen in Höhe von 4,873 Millionen Euro gegenüber – für die künftig der Eigenbetrieb WiN verantwortlich zeichnen wird. Hinzu kommen weitere Verbindlichkeiten aus dem Stadthaushalt (1,181 Millionen Euro), da auch von dort Vermögen (und daran gebundene Darlehen) auf den neuen Eigenbetrieb übertragen werden, und zwar für die weiteren Wohnungen in Besitz der Stadt, etwa im Gebäude der "Alten Post" (Bahnhofstraße 2). Der Vermögenswert dieser Wohnungen (mit Grundstücksanteilen) beläuft sich insgesamt auf rund 3,186 Millionen Euro.

Darüber hinaus weist die Planbilanz für WiN noch weitere Verbindlichkeiten (des GTSZ) aus, die es mutmaßlich zu übernehmen hat – und zwar in Höhe von rund 829.000 Euro, die laut Sitzungsvorlage die "Rückzahlung von Fördermitteln" betreffen.