Seit einem Jahr gibt es das Stationäre Hospiz St. Michael in Nagold – seit einem Jahr können Menschen dort in Frieden sterben.Foto: Fritsch Foto: Schwarzwälder Bote

Soziales: Im Stationären Hospiz blickt man auf das erste Jahr zurück / Ein Haus der Lebensfreude und des Optimismus

"Es war ein anstrengendes, aber auch ein sehr gutes Jahr." Sagt Jutta Benz, Leiterin des Stationären Hospiz St. Michael in Nagold. Ein Jahr, in dem der Betrieb des neuen Hauses langsam hochgefahren werden konnte. "Ein tolles Mitarbeiter-Team" sich fand. Und Menschen ihren letzten Weg in Frieden gehen konnten.

Nagold. Jutta Benz erzählt von der ersten "Gästin" des Hauses. "Die hat immer gesungen", lauthals: "It’s a long way home!" Und ihr ehrenamtlicher Betreuer immer genauso lauthals mit. "So zog das Leben ein in unser Haus", wurde der Betrieb des Hospiz nach der Übernahme des damals noch leeren Hauses "langsam hochgefahren". "Nicht einmal Pflaster gab es", erinnert sich Benz. Alles musste erstmals eingeräumt werden, jedes – und jeder – seinen Platz erst einmal finden. "Wir haben das mit Umsicht machen dürfen." Im September 2019 startete der Betrieb, im Mai, Juni dieses Jahres war das Haus das erste Mal komplett belegt.

Der erste Gast blieb ein halbes Jahr

Die erste, so lebensfroh singende Gästin blieb am Ende ein halbes Jahr lang. Bis sie starb. Denn dafür kommen die Menschen in dieses Haus. Frieden finden, Entspannung finden auf den letzten Metern des Lebens. Die Dinge tun, die noch liegen geblieben sind im Leben. Noch einmal einen besonders lieben, wichtigen Begleiter im Leben treffen. Oder einfach nur loslassen können. "Manche kommen zu uns, stellen ihre Schuhe unters Bett – und schließen die Augen." Die Anspannung, die Pflichten des Lebens – hier haben sie draußen zu bleiben. Dann war es nur ein halber Tag, wo die Gäste hier im Haus waren; kein halbes Jahr.

Woraus sich aber auch der größte Wunsch ableitet, den Jutta Benz und ihr Team nach den Erfahrungen des ersten Jahres für die Zukunft formulieren: "Dass die Menschen, die Angehörigen entdecken, erkennen, die Möglichkeiten des Hospiz’ deutlich früher zu nutzen als bisher meistens üblich." Gefühlt kämen die Patienten, die Gäste des Hauses stets – nicht zu spät, das wäre wohl der falsche Begriff. Aber wenn es selbstverständlich würde, die Menschen immer schon dann, wenn medizinisch klar würde, dass es keine Heilungschancen mehr gibt, ins Hospiz einziehen zu lassen, könnten es mehr dieser noch einmal schönen Tage sein im Leben dieser Patienten.

Jutta Benz hat früher selber auf eine Palliativstation in einem Krankenhaus gearbeitet. "Das ist alles sehr strukturiert", klinisch durchorganisiert eben. Hier im Hospiz gibt es mehr Zeit, mehr Raum, mehr Achtsamkeit für die Gäste. "Wir können auf jeden Bewohner individuell eingehen." Gerade auch in den kleinen, aber so wichtigen Dingen des Alltags. "Wer eine schlechte Nacht hat, den lassen wir morgens länger in Ruhe." Damit er Erholung findet. Das Frühstück gibt es dann halt mal später. Es gibt nichts, was den Ablauf des Hauses durcheinanderbringen könnte. Weil der Ablauf sich immer nach den Patienten richtet. Wenn – vor allem – die Angehörigen das mitbekommen, sei schon mal die Frage da: "Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?" Eben. Weil einfach alle von den Angeboten des Stationären Hospiz profitieren.

Und auch profitieren sollen und dürfen: "Manche Angehörige haben Vorbehalte, ihre Lieben hierher ›abzuschieben‹." Was der "falsche" Blick auf eine Einrichtung wie diese sei: Man wolle ein Geschenk sein für die Gäste. Eine Umgebung schaffen, in der das Leben noch einmal gefeiert werden kann. Um den unausweichlichen Abschied leicht zu machen. Dafür gibt es auch hier die medizinische, pflegerische Begleitung, die immer darauf abzielt, "die Symptom-Last" der Patienten zu mildern. Die Schmerzen zu nehmen – wenn die Patienten das wollen.

"Manche wollen diese Schmerztherapie ganz bewusst nicht", wollen die Bürde ihrer Krankheit annehmen und tragen. "Auch das respektieren wir natürlich."

Wichtiger aber eigentlich als diese pflegerische 24-Stunden-Betreuung ist der so ganz und gar menschliche, persönliche Blick auf die Gäste. Das "Sich-Einlassen" auf den Menschen hinter dem Patienten. Seine Geschichte, sein Leben, seine Persönlichkeit. Jutta Benz erzählt von dem Pianisten. Der sich im Krankenbett in den schönen Garten von St. Michael fahren ließ – um noch einmal die Sonnenstrahlen hier zu genießen. "Die letzten Sonnenstrahlen seines Lebens." Als er ins Koma fiel, das Bewusstsein verlor, fiel seinen Betreuern auf, dass – wenn bestimmte Musik lief – seine Finger ganz von alleine die Bewegungen wie auf einer Klaviatur mitmachten. Die Musik drang noch zu ihm durch. Klar, dass man diese Musik für ihn spielen ließ. Bis auch dieses Leben das Sein und alle Erinnerungen darinnen loslassen konnte.

Doch wie ist es für das Team, die Mitarbeiter hier, all diese Menschen irgendwann gehen lassen zu müssen. Was macht das mit einem selbst? Mit dem eigenen Leben? "Es geht mal besser, mal schlechter", überlegt Jutta Benz. Wenn die Parallelen des zu Ende gehenden Lebens mit dem eigenen "zu nah" sind, belastet das natürlich. "Der eigene Jahrgang", der gleiche Geburtstag zum Beispiel. Oder wenn kleine Kinder zurückbleiben. "Fast alle hier sind selber Eltern."

Besuch im "Raum der Stille" vor dem Heimweg

Regelmäßige Gruppenbesprechungen, auch Supervisionen helfen dann beim Umgang mit solchen Herausforderungen. Und natürlich die jahrelange Erfahrung, die ebenfalls fast alle hier aus der Palliativmedizin mitbringen. Auch kleine Rituale erleichtern den Umgang mit den Herausforderungen einer Arbeit im Hospiz – ein Moment im Andachtsraum des Hauses, dem "Raum der Stille", bevor man selbst zu sich nach Hause geht.

Ein anderes dieser so segensreichen Rituale aber kann wegen Corona derzeit nicht zelebriert werden: Der gemeinsame Abschied von einem Bewohner noch in seinem Zimmer hier im Haus – für Angehörige, aber auch die Mitarbeiter. "Zu viele Menschen auf zu engen Raum." Dabei war – ist – genau dieser Abschied ein so wichtiger Moment beim Abschluss eines Menschenlebens. Danke sagen können. Die Trauer zuzulassen. Der eigenen beginnenden Erinnerung an den lieben Menschen einen ersten Raum, ein Bild mitgeben zu können für die nun beginnende Zukunft ohne ihn. "Wir hoffen sehr, dass diese Form des Abschieds bald wieder möglich sein wird." Das Corona auch hier aufhört, eine Belastung zu sein.

Auch das eigentliche Fest zum Einjährigen des Stationären Hospiz musste ebenfalls gestrichen werden. "Dann feiern wir eben das Eineinhalbjährige – oder den zweiten Geburtstag ganz groß", lacht Jutta Benz. Was irgendwie als Bild, als Metapher zu St. Michael sehr gut passt: Ein Haus der Lebensfreude. Des Optimismus. Der Mitmenschlichkeit. Das seinen Platz gefunden hat.