Helene Beutel, geborene Bätzner, mit ihrer kleinen Tochter Helga. Die Mutter überlebte die Bluttat schwer verletzt. Foto: sb

In der Nacht vom 17. auf den 18. April 1945 starben in der Schillerstraße 18 drei Menschen auf grausame Weise.

Nagold - Es sind unfassbare Gräuel, die sich vor 70 Jahren in Nagold zugetragen haben. Am 16. April 1945 marschierten ab circa 16 Uhr französische Streitkräfte in die Stadt ein. Vorausgegangen waren schwere Kämpfe mit deutschen Truppen, die aber mittlerweile durch unablässige Jagdbomber-Angriffe vernichtend geschlagen waren.

Da die Nagolder Bevölkerung, so hieß es damals, Widerstand geleistet hätte, sei die Stadt von der französischen Militärführung für 48 Stunden "freigegeben" worden. So berichtet es zumindest der damalige Bürgermeister Hermann Maier in einem Bericht des "Gesellschafters", der zehn Jahre nach den Tagen des Schreckens erschien. Was folgte, waren groß angelegte Plünderungen überall in Nagold. Und Vergewaltigungen. Und ein Massenmord im rasenden Blutrausch, dem in der Schillerstraße Nummer 18 in der Nacht zum 18. April der Holzbildhauer Karl Bätzner, dessen Ehefrau Margarete und das vierjährige Enkeltöchterchen Helga zum Opfer fielen.

Die damals 33-jährige Tochter Helene, Mutter der kleinen Helga, überlebte die grausame Tat schwerverletzt. Ihre im Jahr 1966 formulierte Mord-Anzeige vor der Zentralstelle für Verbrechen wider der Menschlichkeit mit einer Beschreibung der Geschehnisse in der Tatnacht lässt einem noch heute den Atem stocken:

"(...) In der Nacht vom 17./18.4.1945 drangen angetrunkene Soldaten der französischen Armee mit Gewalt (…) in unser Haus. Einer von diesen Soldaten drang nach Einschlagen der Wohnungstüre meiner Eltern in unsere Wohnung. Zur Tatzeit gab es kein Licht. Der eingedrungene Soldat hatte eine Taschenlampe an seiner Uniform hängen, war bewaffnet mit einer Schusswaffe und einem langen Messer.

Wir drängten uns im Schlafzimmer der Eltern zusammen. Vor lauter Angst war ich sowie meine Eltern wie gelähmt. Der Soldat stürzte sich zuerst auf meinen Vater, Karl Bätzner, schnitt ihm mit dem Messer den Hals durch und als er aufschrie, streckte er ihn mit zwei Schüssen nieder. Mein Kind war das nächste Opfer, er schnitt ihm ebenfalls den Hals durch, dann stürzte er sich auf meine Mutter und schnitt auch ihr die Kehle durch. Nachdem ich fürchterlich zu schreien anfing, packte er mich, schnitt mir mit dem Messer in den Hals und anschließend schnitt er mir noch beide Handgelenke durch (…)."

Bis heute eine unbegreifliche Tat. Das sagt auch Alfred Kaiser, der seit dem Tod seiner Frau die Unterlagen von Helene Beutel, geborene Bätzner, hütet. Kaisers Ehefrau Ilka (geborene Rummel) pflegte Helene Beutel bis zu deren Lebensende, kam einst als vollverwaiste Pflegetochter zur Schwester von Helene Beutel, Lydia Runge (geborene Bätzner) in Obhut. Lydia Runge befand sich während der Mordnacht mit im Haus, konnte sich aber auf dem Dachboden unter gelagerten Tannenzapfen verstecken. Die Geschehnisse von damals seien in der Familie immer präsent gewesen.

"Vielleicht war es eine Verwechslung"

Alfred Kaiser zeigt Bilder der drei Mordopfer. Auch von der kleinen Helga. Vor allem der Mord an dem Kind macht die Tat so unvorstellbar. "Vielleicht war es eine Verwechslung", mutmaßt Kaiser, der selbst der Liebe wegen 1970 nach Nagold kam. Und hier seine Ilka heiratete. Es gab damals in den "dunklen Jahren" den Philipp Bätzner, der es als bekannte Nazi-Größe bis in den deutschen Reichstag (1933 bis 1945) schaffte. Der war Gründer der SA in Nagold. Karl Bätzner war entfernt mit Philipp Bätzner verwandt, sah ihm – wenn man Bilder von damals vergleicht – recht ähnlich.

Was auch immer die französischen Soldaten damals zu dieser grausamen Bluttat bewog – offiziell gilt die Tat auf deutscher Seite als ungesühnt. Aber vielleicht war sie das nicht. Sowohl Nagolds Altbürgermeister Hermann Maier als auch ein damaliger Polizeibeamter berichten übereinstimmend, dass noch im Laufe der 18. Aprils 1945 zwei französische Soldaten marokkanischer Herkunft von ihrer eigenen Truppe standesrechtlich erschossen wurden – wegen "Vergewaltigungen und Plünderungen", wie es in den Berichten von damals heißt. Aber das klingt eigentlich unglaubwürdig, denn solche Taten verübten in jenen Tagen viele französischen Soldaten in Nagold. Wahrscheinlicher scheint heute, dass damit der auch für die französische Militärführung unakzeptable Blutrausch in der Schillerstraße abgeurteilt wurde.

Auch Tatzeugin und -opfer Helene Beutel berichtet in ihrem Anzeige-Protokoll, dass die damalige (französische) Kommandantur in Nagold sich um ihre Rettung kümmerte und für ihre Einweisung ins Kreiskrankenhaus Nagold sorgte, wo sie dann auch von einer Ermittlungskommission in dieser Sache besucht und befragt wurde. Bis zu ihrem Tod hatte Helene Beutel aber keine Information darüber, ob es sich bei den noch am Tattag standesrechtlich erschossenen französischen Soldaten tatsächlich um die Täter in ihrem Fall handelte.

"Zeitzeugen von damals sterben langsam aus"

Sieht man die alten Fotografien aus dem Fundus von Alfred Kaiser, werden die Geschehnisse von damals auf einmal sehr lebendig. Auch das Haus Schillerstraße 18, wo die Tat geschah, existiert noch. Und lässt die Erinnerungen seltsam gegenwärtig werden. "Aber wir Zeitzeugen von damals sterben langsam aus", sagt Kaiser, der selbst das Kriegsende in Kirchentellinsfurt bei Tübingen erlebte. Wenn Interesse bestehe, gebe er die in seinem Besitz befindlichen Originalunterlagen gerne in die Hand eines Archivars. Oder des Geschichtsvereins. Damit die Erinnerung – auch als Mahnung, dass so etwas nie wieder passieren dürfe – lebendig bleibe.