Wegen der Herausgabe des Pferdes Fanny sollte am Nachmittag des 16. April 1945 G. Raaf an derselben Stelle erschossen werden.                                                                 Fotos: Privat Foto: Schwarzwälder Bote

75 Jahre Kriegsende: Gerhard Reule erinnert sich an den 16. April 1945 in Nagold

Nagold. "Die Front kommt…" flüsterten verstört die Erwachsenen in Nagold hinter vorgehaltener Hand. Diese Linie war nun nicht mehr wie bisher in fremden Ländern sondern dramatisch nah vor der Stadt angekommen. Bomben fielen nicht mehr allein auf große Städte wie Pforzheim und Stuttgart, sondern auf Wildberg und die Bahnhöfe in Nagold, und selbst der kleine Stadtbahnhof in Nagold wurde mit Sprengbomben angegriffen.

Vom Himmel fielen Flugblätter mit dem Slogan: "Wir sind die lustigen Acht und kommen bei Tag und bei Nacht." Dass dieser Spottvers gar nicht lustig gemeint war, spürte jeder – so auch jener Bauer, der auf dem Steinberg pflügte als französische Jagdflugzeuge am Horizont herumstreiften, so dass er eiligst mit seinem Gespann im Wald am Bildstöckle Schutz suchte und mit Bombenwürfen verfolgt wurde, so dass bis heute noch zwei große acht Meter breite und drei Meter tiefe Trichter Zeitzeugen davon sind.

Geschäfte verkauften gehütete Tuchvorräte zu Schleuderpreisen

Als dann Mitte April 1945 deutsche Wehrmachtskolonnen die Stadt erreichten und in Häusern und Scheuern einquartiert wurden und am Lemberg reihenweise Flak-Geschütze in die bestellten Felder eingegraben worden sind, da merkte selbst jedes Kind, dass der Krieg vor der Haustüre angekommen war. Als Bombentrichter in den Hausgärten blutüberströmte Zivilisten und Soldaten hinterließen, war vom "Endsieg" nichts mehr zu sehen. Die Nagolder Geschäfte verkauften ihre sorgsam gehüteten Tuchvorräte und sonstige Mangelware zu Schleuderpreisen, um sie nicht zur Kriegsbeute werden zu lassen.

Die deutsche Wehrmacht versuchte, den Durchbruch zur Gäuhochfläche aufzuhalten. Dazu diente die Stadt als Frontgebiet, wo requiriert wurde, wo es ging, und wo zum Beispiel gegen eine hochschwangere 31-jährige Bäuerin am Kronenbuckel die standrechtliche Erschießung wegen Wehrkraftzersetzung angedroht wurde. Die Frau hatte sich geweigert, die letzten Pferde aus dem Stall herauszugeben, da sie zur Versorgung der Bevölkerung auch nach dem Einmarsch noch notwendig sein sollten. Ein Pferd durfte sie letztlich behalten. Am Ende waren in dem 30 Hektar-Betrieb noch drei Kühe, ein Schwein, ein Pferd und ein paar Hühner im Bestand, deren Eier täglich gezählt werden mussten. Nach Abzug der deutschen Soldaten standen reihenweise verlassene Geschütze, und überall lagen Granaten, Munition und Gewehre in Haufen herum. Dafür sollten jetzt alte Männer und heranwachsende Buben mit Panzersperren aus Bäumen und Steinen die Stadt als Bollwerk gegen die feindlichen Truppen verteidigen.

Am Abend des 16. April vor 75 Jahren kamen die französischen Truppen über den Killberg und die Rohrdorfer Steige in die Stadt und durchsuchten jedes Haus, wo die Bevölkerung und die verbliebenen Soldaten sich in Kellern Schutz suchend versammelt hatten. Dabei krochen oft 16-jährige Jungen in Uniform hinter Mostfässern hervor mit der Frage, ob sie den Weg in die perspektivlose Gefangenschaft antreten sollten. Gleichzeitig hatten sich aber auch früher im Betrieb arbeitende polnische Gefangene, die jetzt frei waren, schützend in die Haustüre gestellt, um der Hausgemeinschaft ihrer bisherigen Dienstherren beizustehen.

Im Keller der Volksbank Nagold saßen deren Direktor Dolmetsch, sein Vorstand Frasch und der alte Gärtner Hermann Raaf sowie die Frau des Bürgermeisters Maier, der zur gleichen Zeit auf dem Rathaus die Stadt zu übergeben hatte. Als in der Haiterbacher Straße Schüsse auf die einrückenden Truppen fielen, nahmen die Franzosen kurzerhand und ohne Zusammenhang die Männer aus dem Volksbankkeller als Geiseln zur Füsilierung mit und ließen verkünden, dass dieselben beim nächsten Schusswechsel mit der Besatzung sofort erschossen würden. Die Soldateska wüteten tagelang in der Stadt und taten insbesondere Frauen Unbeschreibliches an. Ganze Familien wurden umgebracht oder suchten den Freitod. Die Bevölkerung wurde mit der Drohung, die Stadt an allen Ecken anzuzünden, angstvoll gefügig gemacht.

Die Kinder schauten den Franzosen beim Kochen und Waschen zu

Wenige Tage danach wagten wir Kinder uns wieder auf die Straße, weil für uns der Krieg aus war, und wir schauten neugierig den Franzosen und Marokkanern beim Kochen und Waschen zu. Wir bauten aus Munitionskästen Floße, um sie in Bombentrichtertümpeln als Boote zu benutzen. In der Villa Ulmer, im Gasthaus Köhlerei und auch in anderen Häusern war die französische Kommandantur einquartiert und die Bewohner waren – sofern sie nicht ausgewiesen wurden – in die Mansarden ihrer eigenen Wohnungen abgeschoben worden. Es waren alle Telefone, Radios, Landkarten, Ferngläser, Fotos und Waffen auf dem Rathaus abzugeben, ebenso Fahrzeuge, sofern sie nicht vorher schon beschlagnahmt worden waren. Werkstätten, Fabriken und ganze Eisenbahngleisstrecken wurden demontiert sowie Wälder durch Kahlschläge, wie im Killberg, abgeholzt, um den Weg als Reparationsleistungen nach Frankreich anzutreten.

Wer aus amerikanischer oder britischer Gefangenschaft entlassen worden war, wurde in der französischen Zone erneut festgenommen und als Gefangener nach Frankreich verbracht. Selbst alte Volkssturmleute sind dann dort noch umgekommen. In der Stadt Nagold lebten und existierten in diesen Tagen etwa 10 000 Menschen – Frauen, Kinder, alte Männer, Ausgebombte, Evakuierte, Verwundete, Gefangene und Soldaten. Wo sonst 4000 Einwohner zu Hause waren, mussten nun 10 000 unter Zusammenrücken aus den verbliebenen Restressourcen eines jeden einzelnen Nagolders versorgt werden.

Bei vielen fing das Leben aber wieder ganz neu von vorne und beim Nullpunkt an, getragen von der Hoffnung, das Erlittene und Erlebte hinter sich zu lassen. Dazu gehörten Besatzungszonen mit Grenze, Schlagbaum und Passierschein am Nagolder Waldeck zum Alltag, und geheime Schleichwege führten über Wolfsberg und Steinberg ins amerikanisch verwaltete Mötzingen und Oberjettingen.

Und das alles ist seit 75 Jahren Geschichte geworden, verbunden mit der Hoffnung, dass noch nie dagewesene heutige Krisen auch heute Menschen wieder zusammenführen, um einen unbekannten Weg in die Zukunft zu beginnen, ohne zu fragen, welches Vorzeichen die Saldenbilanz später einmal ergeben wird, getragen von der Sehnsucht, aus der Erfahrung von Gestern das Heute zu meistern und das Morgen zu erhoffen. Der Autor Gerhard Reule ist Jahrgang 1937 und lebt heute in Stuttgart. Das Kriegsende erlebte erals Bub in Nagold, jener Stadt, der er auch heute noch eng verbunden ist.