Bürger und auch Stadträte - wie hier Daniel Steinrode - kritisierten bei der Informationsveranstaltung im Kubus die geplante Schließung des Gertrud-Teufel-Seniorenzentrums. Foto: Fritsch

Bürger machen Unmut Luft. Hohngelächter für OB. Mit Kommentar

Nagold - Das ist eine ganz neue Erfahrung, die OB Jürgen Großmann bei der Informationsveranstaltung zur geplanten Schließung des Gertrud-Teufel-Seniorenzentrums (GTSZ) machen musste. Als er versprach, sich um jeden einzelnen Heimbewohner kümmern zu wollen, schallte ihm Hohngelächter entgegen. Am Ende sollte es für ihn aber doch ein "guter Abend" werden.

So voll hatte man den Kubus selten gesehen. Schon eine dreiviertel Stunde vor dem offiziellen Beginn standen die Bürger in der Kirchstraße vor verschlossener Eingangstür, um einen Sitzplatz zu ergattern Am Ende mussten städtische Mitarbeiter Stühle herbeischleppen, damit die rund 250 Zuhörer Platz fanden. "Kommen Sie ganz entspannt nach vorne", verwies der OB noch auf freie Stühle in vorderster Reihe. Für ihn selbst war dieser Abend weniger entspannt. Er stand im Kreuzfeuer der Kritik.

Eine halbe Stunde dauerte sein Plädoyer: "Ich weiß, was ich in den letzten beiden Jahren getan habe." Schon vor seiner Amtszeit sei die "Schere gewaltig auseinandergegangen". Hintergrund: Das Heim unter städtischer Trägerschaft macht seit Jahren Verluste, allein 2017 waren’s 700 000 Euro. Großmann skizzierte nochmals den langen Entscheidungsweg, der in der Ratssitzung am 18. Dezember in den Beschluss mündete, die Pflegeplätze aufzugeben. Schon einmal, 2010, war man kurz vor der Schließung. Man entschloss sich damals, die Trägerschaft an einen Dritten zu übergeben. Sieben Interessenten klopften laut Großmann damals an, zwei blieben übrig – und sprangen schließlich auch noch ab. Neue Konzept kamen und gingen, doch es half nichts: Das Heim blieb in den roten Zahlen stecken. Weitere sieben bis acht Millionen Euro zu investieren, um den gesetzlichen Vorschriften zu genügen, hätte, so Großmann, "in ein finanzielles Fiasko geführt". Und über dem Heim hätte immer das "Damoklesschwert sparen, sparen, sparen" geschwebt. Also habe man beschlossen, die stationäre Pflege bis zum 30. Juni 2020 aufzugeben, aber das betreute Wohnen aufrecht zu erhalten und damit das Gebäude im städtischen Eigentum zu behalten. Vor allem mit Blick auf die Kreiskliniken als direkte Nachbarn: "Da macht das Wort Kooperation Sinn." Personell ist das Heim bereits zur Hälfte ausgedünnt: Waren’s 2015 noch 100 Heimbewohner, sind es heute nur noch 41. Von einst 105 Mitarbeitern sind noch 58 an Bord.

Großmann wiederholte an diesem Abend die Ankündigung, hinreichend Ersatz für das geschlossene Heim schaffen zu wollen: mit zwei Pflegeheimen im Norden und im Süden der Stadt mit jeweils 48 Pflegeplätzen, geführt von privaten oder gemeinnützigen Trägern: "Auf dieses Thema sind die Kommunen nicht zugeschnitten", sagte der OB vieldeutig. Hintergrund ist die unterschiedliche Bezahlung von Heimen mit privater und öffentlicher Trägerschaft.

OB plaudert aus dem Nähkästchen

Großmann kann sich vor allem im Bereich Calwer Decken oder im Hasenbrunnen, wo die Stadt geeignete Grundstücke besitzt, solche Projekte vorstellen. Mit dem Vorstandsvorsitzenden des Diakoniewerks Martha Maria, Andreas Cramer, habe er dieser Tage bereits vielversprechende Gespräche geführt, plauderte Großmann aus dem Nähkästchen: "Alle Ampeln stehen auf Grün für ein neues Projekt Martha Maria". Was dem OB derweil Sorgen bereitet, ist das Klima in der Stadt, das mögliche Interessenten abschrecken könnte: "Investoren sind scheu wie’s Reh."

Die Bürger hörten die Botschaft Großmanns wohl: "Wir lassen keinen auf den Boden fallen", allein ihnen fehlte der Glaube. Eberhard Schwarz, Vorsitzender des Stadtseniorenrates, stand als Erster am Saalmikrofon und kritisierte, dass es der falsche Zeitpunkt gewesen sei für diesen folgenreichen Entschluss, das Heim zu schließen. Seiner Meinung nach hätte man mit diesem Schritt warten müssen, bis ein neues, privates Haus als Ersatz gebaut worden wäre. "Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt", entgegnete der OB. Es habe, sagte er, "wahrscheinlich zehn Jahre und länger gebraucht, um vor Ihnen aufrecht hinstehen zu können." Auch diesen Satz quittierte das vornehmlich gesetztere Publikum mit höhnischem Gelächter.

Andere Pflichtaufgaben wären blockiert worden

"Man kann doch einen solchen Namen nicht einfach auslöschen", befand Reingard Gascho. Andere Zuhörer stellten die von der Stadt vorgestellten Geschäftszahlen in Frage und wollten wissen, wo das viele Geld geblieben sei, das sie für ihre Angehörigen bezahlt hätten. Zu 80 Prozent sei es in Personalkosten geflossen, entgegnete Großmann: "Das tut uns jetzt leid, aber das ist wirklich so."

Dieser Abend war aber auch ein politischer Schlagabtausch zwischen OB und den beiden konservativen Fraktionen CDU und Freien Wählern auf der einen und der SPD und den Grünen auf der anderen Seite. SPD-Fraktionschef Daniel Steinrode warf dem OB einen plötzlichen "Sinneswandel" bei der Schließung des Heimes vor. In keiner Drucksache sei bei der entscheidenden Ratssitzung im Dezember ein solches Ziel der Verwaltung klar erkennbar gewesen: "Es gibt immer noch die Chance zu einem Erhalt", meinte Steinrode, "auch wenn schon viel kaputt gemacht wurde." Auch Grünen-Stadträtin Brigitte Loyal wunderte sich im Nachhinein über die "ungeheure Eigendynamik" bei jener Dezembersitzung, als nach den öffentlichen Haushaltsreden diese Entscheidung zur Schließung des Heimes, die ihrer Meinung nach hätte öffentlich gefällt werden müssen, nichtöffentlich fiel. Mit atmosphärischen Konsequenzen: "Es gibt eine ungute Situation im Gemeinderat."

Der OB konterte mit dem Hinweis, dass an dieser Sitzung kein Stadtrat einen Antrag auf Vertagung dieses Themas gestellt habe: "Also kann niemand so tun, als ob er vollständig überrascht worden sei."

Die Alternative zur Schließung des Heimes wäre es gewesen, die städtischen Steuern zu erhöhen, so der OB: "Das gehört zur Wahrheit dazu." Andere Pflichtaufgaben der Stadt wären sonst blockiert worden. Wie zum Beispiel für die Kinderbetreuung, wie CDU-Stadtrat Wolfgang Schäfer anführte. Allein für die unter Sechsjährigen müsse die Stadt jährlich mehr als fünf Millionen Euro zuschießen. Auf seine Feststellung: "Niemand ist aufgefallen, dass sich die Pflegeplätze in dem Heim halbiert haben", reagierte das Publikum gereizt und mit Buhrufen. "Adam Riese", versuchte sich Schäfer nochmals Gehör zu verschaffen, "lässt sich von Worten nicht außer Kraft setzen."

Nach zwei Stunden beschloss der OB die Veranstaltung und bedankte sich für die "kritische und sachliche" Diskussionskultur: "Es ist ein guter Abend geworden." Als er das sagte, hatten schon einige Zuhörer enttäuscht den Saal verlassen.

So gesehen

Reiner Wein

Diesen Kampf konnte der OB nicht gewinnen. Bei der Informationsveranstaltung zur Schließung des Gertrud-Teufel-Heimes trafen zwei völlig unterschiedliche Ebenen der Betrachtungsweise aufeinander: auf der einen Seite die Emotionen der Bürger, aufgebracht ob der Schließung eines Altenheimes, deren Gründe für sie nicht nachvollziehbar waren. Auf der anderen Seite ein Stadtoberhaupt, das vorwiegend mit Zahlen und Fakten operierte. So blieb es bei einem offenen Schlagabtausch – ohne Punktsieger. Und doch muss man sich in diesen Tagen fragen, was den Nagolder Gemeinderat in – Gertrud – Teufels Namen geritten hat, wenige Monate vor der Kommunalwahl ein solches Fass aufzumachen. Man muss wissen, dass Großmann die Bürgervertreter – nichtöffentlich – vorher gefragt hatte, ob sie mit Blick auf den Urnengang im Mai wirklich diese brisante Entscheidung treffen wollten. Und der Gemeinderat sagte Ja. Großmann wäre ein solches Wagnis kurz vor einer OB-Wahl garantiert nie und nimmer eingegangen. Denn wer diese Stadt und ihre Seele zu lesen vermag, der ahnte, was da auf den Stadtrat zukommen würde. Es wird so oft vom Nagolder Geist schwadroniert. Aber man kann nicht bei jedem Neujahrsempfang ein Loblied auf den Nagolder Bürgersinn anstimmen und wenige Tage später die Schließung eines Altenheimes aus Kostengründen verkünden.

Dieser Bürgersinn und die heftigen Proteste gegen das Aus des Heimes sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Bürger in Nagold reagieren sensibel, wenn die Grundwerte dieser Stadtgesellschaft, die auf generationenübergreifende Verantwortung für das Gemeinwohl basiert, in Frage gestellt werden. Und natürlich ist es, wenn man den letzten Lebensjahren entgegensieht, schwer zu begreifen, dass zig Millionen in örtliche Schulen gesteckt werden, aber wegen 400 000 Euro Abmangel im Jahr ein Seniorenzentrum geschlossen wird. Und wo, fragen Angehörige von Patienten blauäugig, ist das viele Geld geblieben, das sie jeden Monat für die Unterbringung überwiesen haben? Weder Stadtrat noch Verwaltung haben sich in den vergangenen Wochen getraut, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken, weil sie die Mitarbeiter des Heimes schützen wollten. Das ist aller Ehren wert. Aber erzählt wird eben immer nur die halbe Wahrheit. Wie verlogen in der Politik die Klage über zu niedrige Löhne im Pflegesektor ist, dafür ist dieses Heim und sein beschlossenes Ende ein Paradebeispiel. Die Mitarbeiter im GTSZ verdienen anständig, weil die Stadt ihr Brötchengeber ist, nach dem Tarif im Öffentlichen Dienst.

Aber der ist eben um 20 Prozent höher als bei freien Trägern. Anständiger Lohn ist nichts Ehrenrühriges. Für ihre aufopferungsvolle Arbeit verdienen diese Mitarbeiter nicht zu gut, sondern die anderen zu wenig. Aber die Pflegesätze, die die Kassen erstatten, richten sich nach den "freien" Löhnen. Das ist der wahre Grund für die Schieflage des Heimes. Und das ist auch der Grund, wieso bislang kein Investor gefunden wurde, weil dieser bei einer Betriebsübernahme alle Strukturen übernehmen müsste. Unter diesen Gesichtspunkten muss man OB Großmann – leider – recht geben: Eine Stadt ist als Träger eines Seniorenheimes ein "Exot". Und Exoten sterben schneller aus.