Fotos: Fritsch Foto: Schwarzwälder Bote

Bei einem einzigartigen Modellversuch sollen Instrumente belebt werden – und der öffentliche Diskurs

Im Moment ist sie noch Zukunftsmusik – die intelligente Orgel. Mit einem Modellversuch wollen Kirchenmusikdirektor Peter Ammer und Dekan Ralf Albrecht aber den vorsichtigen Aufbruch in Richtung Digitalisierung wagen und zur Diskussion anregen.

Nagold. An diesem Vormittag vibriert das große Schiff der evangelischen Stadtkirche von den Klängen der Orgel. Wer das Gotteshaus betritt, wird vom Spiel des Kirchenmusik-Studenten Paul Ehrmann empfangen.

Genau das ist heute aber vielerorts nicht mehr selbstverständlich. Immer öfter bleiben die als Weltkulturerbe geltenden Instrumente stumm. Denn gerade in den kleineren Kirchengemeinden fehlen Organisten. Das ist nicht nur dem demografischen Wandel geschuldet. Sondern auch dem Umstand, dass Nachwuchsspieler entweder wegziehen oder sich nicht jeden Sonntag Zeit nehmen können. "Wir haben schon jetzt die Situation, dass Kirchengemeinden bei mir anrufen, weil sie am Sonntag keinen Organisten haben", bedauert Peter Ammer.

Dabei eigne sich gerade die Orgel am besten dazu, Sänger zu begleiten und damit das Singen als Kulturgut wieder zu befördern. Zudem zeichne sich im Osten der Bundesrepublik oder in Frankreich bereits ab, dass die Instrumente dem Verfall preisgegeben werden. "Eine Orgel muss bespielt werden, um erhalten zu bleiben", meint Ammer.

Um das zu erreichen, will sich der Kirchenmusikdirektor beim Digitalisierungsprojekt "Singen – Orgel 4.0" am technischen Fortschritt bedienen. In Zusammenarbeit mit dem Center of Musik and Film Informatics (cemfi) der Musikhochschule Detmold wagt er sich an einen bisher einzigartigen Modellversuch. Unterstützung erhält Ammer vom Nagolder Dekan Ralf Albrecht, der in der Digitalisierungskommission der Württembergischen Landeskirche sitzt. Diese hat sich dazu entschlossen, das Projekt zu fördern. Weil es, wie Albrecht sagt, "viel Zukunft atmet". Dieser Ansicht waren wohl auch die Verantwortlichen des Leader-Programms Heckengäu. Insgesamt hat Ammer bereits Fördermittel in Höhe von mehr als 100 000 Euro zusammen.

Diese sollen in den kommenden Monaten zunächst in die technische Aufrüstung der Orgel in der Nagolder Stadtkirche und später auch in die Instrumente der Kirchengemeinden Wart und Ebershardt fließen. "Ich möchte alles zusammentragen, was technisch möglich ist", erklärt Ammer. Dafür arbeitet er unter anderem mit erfahrenen Orgelbauern zusammen.

Doch damit nicht genug: Auf Basis dieser Hardware wollen Informatiker der Musikhochschule Detmold die derzeit verfügbare Software so weiterentwickeln, dass künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen könnte. Dieses Kunstwort beschreibt ein Fachgebiet der Informatik, das sich mit der elektronischen Simulation des intelligenten menschlichen Verhaltens befasst.

Wie das aussehen könnte, davon haben Ammer und Albrecht bereits konkrete Vorstellungen: "Wenn ich es zulasse, dann gibt es hier in zehn Jahren vielleicht eine Orgel, die mit ihrem Spiel meine Stimmung interpretiert, meine Bewegungen innerhalb der Kirche oder auch die Kirchenjahreszeit", malt sich Albrecht aus. Und Ammer bringt neue didaktische Methoden ins Spiel. So könnte die Orgel eigenständig zwei Stimmen übernehmen, ein Schüler die dritte. Auch Orgelführungen müssten dann nicht am Terminkalender des Organisten scheitern, ebenso wenig die Gesangsbegleitung bei den sonntäglichen Gottesdiensten.

Im Moment sind diese Vorstellungen noch Zukunftsmusik – und werden es vielleicht auch bleiben. Denn nicht alles was technisch möglich ist, soll auch realisiert werden. Wie der aktuelle Diskurs deutscher Unternehmen über den ethischen Umgang mit künstlicher Intelligenz zeigt, verschieben sich ethische Grenzen. Das unterstreichen auch Ammer und Albrecht. "Im Hinblick auf die digitale Orgel sind wir ethisch an einer Stelle, die wir sehr bewusst markieren wollen", betont der Dekan. "Dabei wird deutlich, was Digitalisierung kann. Aber ich selbst bestimme, was sie dann auch darf."

So ist für die beiden klar, dass der kontinuierliche Austausch mit Kirchenmusikern, Theologen, Ethikern und Gemeindemitgliedern den Kern des Prozesses bilden muss.

Deshalb hat Ammer für das Jahr der Orgel 2021 ein Symposium der "Nagolder Orgelakademie" in den Blick gefasst. Dort sollen nicht nur die Erfahrungswerte des Modellversuchs Gegenstand einer Diskussion sein. Sondern auch in einer breiten wie transparenten Debatte die Möglichkeiten und Grenzen dieser Zukunftsvision abgesteckt werden. "Da verschieben sich Grenzen", sagt Ammer. "Und wir möchten an der Vorderkante dieser Grenzen mitgestalten, mitentwickeln und mitdiskutieren." Immer vor der Frage, wie Kirche in Zukunft aussehen soll.