Ob alte Bücher oder Digitalisierung: Als Albstädter Stadtarchivarin war Dorothea Reuter auf allen Feldern ihres Fachs eine Koryphäe – entsprechend groß ist die Betroffenheit über ihren Tod. Foto: Eyrich

Die Hoffnung auf eine Genesung war am Ende vergeblich. Stadtarchivarin Dorothea Reuter ist nach langer schwerer Krankheit gestorben. Sie wurde 56 Jahre alt.

Albstadt-Ebingen - Man konnte sie fragen, was man wollte; ganz gleich, ob es um die Gaststättendichte im Ebingen des 17. Jahrhunderts, die Architektur des Oberen Tors um 1800 oder das Erdbeben von 1978 ging, man bekam nie ein "Weiß ich nicht" zu hören, erhielt immer eine fundierte Antwort, Quellenangaben und Unterlagen – und all das innerhalb von kürzester Zeit. Das Ganze ohne irgendein Lamento, dass man wieder einmal Unmögliches verlange, ruhig, freundlich, hilfsbereit, seriös. Dorothea Reuter war der Inbegriff des exzellenten Service – und zugleich die Fleisch gewordene Sachkompetenz. Sie schien Albstadt in- und auswendig zu kennen.

 

Ihr Wissen war enzyklopädisch

Was nicht selbstverständlich ist, denn sie war nicht von hier. Zwar hatte sie 2009 bei ihrem Amtsantritt die Frage bejaht, ob sie die Gegend denn kenne: Doch, doch, sie habe schon einmal einen Vortrag in Pfeffingen gehalten – aber ihr fast schon enzyklopädisches Wissen wird sie schwerlich bei dieser Gelegenheit erworben haben.

Immerhin, sie war "Landeskind", stammte aus der Umgebung von Reutlingen, hatte dort Abitur gemacht und danach eine Buchhändlerlehre absolviert. Anschließend studierte sie Geschichte, entwickelte dabei ein Faible für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit und war als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Geschichtliche Landeskunde der Universität Tübingen tätig. Sie steuerte einige typische Biografien – Pfarrer, Heimatforscher, Pädagogen – zur Fachliteratur über württembergische Geistigkeit bei und wirkte an der Abfassung diverser Kreisbeschreibungen mit, aber da sie sich im Elfenbeinturm nicht zu Hause fühlte, sagte sie dem Wissenschaftsbetrieb Adieu und wurde Archivarin.

Dorothea Reuter war 44, als sie ihren Posten am Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart aufgab und in Albstadt die Nachfolge von Peter Thaddäus Lang antrat.

Ellenbogenfreiheit im breiten Spektrum

Dort hatte sie die Ellenbogenfreiheit, die sie sich gewünscht hatte: Der Mitarbeiterinnenstab war extrem überschaubar, das Arbeitsspektrum entsprechend vielgestaltig; es reichte von der archivarischen Kernarbeit, der Sichtung, Erschließung, Verwaltung und Pflege des Archivbestands, über Öffentlichkeitsarbeit bis zu editorischer Tätigkeit, etwa an Gerhard Hausers Albstädter "Vorgeschichte" von 2015. Sie hielt Vorträge über Frauenrechte und Männermacht im Württemberg der wilhelminischen und der Weimarer Zeit, über Arbeiterunruhen im Ebingen des Jahres 1923, über die Weltkriegserlebnisse und -wahrnehmung der "Heimatfront" zwischen 1014 und 1918 und über den Wandel, den das öffentliche Bild des Widerstands gegen die Nazis im Lauf der Nachkriegsjahrzehnte erfuhr.

In Sachen Digitalisierung auf Höhe der Zeit

Sie gab aber auch an wiederkehrenden Archivtagen Einblick in die archivarische Arbeit, die mit Staubschlucken verbundene Recherche, den Kampf gegen Pilzbefall und saures Papier oder die Vorzüge und Tücken der Digitalisierung – die modernsten Datenträger sind bekanntlich auch die kurzlebigsten. Dorothea Reuter war das bewusst, und es ist eines ihren vielen Verdienste, das Stadtarchiv Albstadt und die Archivlandschaft als Ganzes in Sachen Digitalisierung vorangebracht zu haben.

Faible für Filmbestände

Ein besonderes Faible hatte sie für die Filmbestände ihres Hauses, die Super-Acht-Streifen aus den 1930er-Jahren mit hakenkreuzbeflaggten Sandburgen am Nordseestrand und gekonnten Kameraschwenks vom blühenden Apfelbaum zum Aufmarsch der braunen Kolonnen. Da es keine geeigneten Projektoren mehr gab und das Material zum Teil leicht entflammbar war, konnten diese Zeitdokumente gar nicht mehr gezeigt werden – es ist Reuters Verdienst, dass sie beizeiten digitalisiert wurden und nun wieder zugänglich sind.

Was ebenfalls in Erinnerung bleiben wird, ist die ruhige, ausgeglichene, unaufdringliche und freundliche Art von Dorothea Reuter: Sie war kein lauter Mensch, aber sie war gern unter Leuten und genoss es, ihnen auf Führungen – sogar kulinarischen – Ebingen und Tailfingen zu zeigen, Städte, die nicht ihre waren, die sie aber zu ihren gemacht hatte.

Engagiert in einschlägigen Vereinen

Vier Jahre lang war sie Vorsitzende des Fördervereins der Martinskirche, in deren unmittelbarer Nähe sie wohnte; im Förderverein des Heimatmuseums Ebingen amtierte sie als stellvertretende Vorsitzende. Albstadt geht mit ihr nicht nur eine Archivarin verloren, sondern ein Archiv sui generis – die Albstädter werden künftig weniger über sich wissen als bisher.