Im ZDF-Gerichtsdrama „Sie sagt. Er sagt.“ über einen Vergewaltigungsprozess überlassen der Autor Ferdinand von Schirach und der Regisseur Matti Geschonneck dem Wort die Bühne. Die exquisiten Darsteller erzeugen daraus Hochspannung. Ein TV-Ereignis!
Fragen nach Recht, Schuld und Wahrheit hat Ferdinand von Schirach nicht nur als Strafverteidiger bearbeitet, sondern auch als erfolgreicher Autor von Theaterstücken, Romanen, Erzählungen und Drehbüchern. Die Verfilmung seines Theaterstücks „Terror“ 2016 gilt als Meilenstein deutscher Fernsehgeschichte. Das ARD-Publikum war aufgerufen, ein Urteil zu fällen über die Tat eines Luftwaffenmajors, der ein von einem Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abgeschossen hatte.
Auf das finale Urteil verzichtet das ZDF-Gerichtsdrama „Sie sagt. Er sagt.“, zu dem von Schirach das Drehbuch liefert. Nichtsdestotrotz liegt gerade auf der auf stetig schwankendem Untergrund sich bewegenden Urteilsbildung beim Zuschauer das Hauptaugenmerk dieses klug gebauten, stringent inszenierten und fantastisch gespielten Dramas, das sich als Lehrstück über die deutsche Strafprozessordnung und die Fallstricke der Wahrheitssuche vor Gericht versteht.
Packendes Kammerspiel
Die bekannte Talkshowmoderatorin Katharina Schlüter (Ina Weisse) hatte vier Jahre lang mit dem Industriellen Christian Thiede (Godehard Giese) eine vor ihren Familien geheim gehaltene Affäre. Nun behauptet sie, dass aus dem einvernehmlichen Sex, zu dem es nach der Trennung bei einem zufälligen Treffen in Thiedes Wohnung gekommen ist, eine Vergewaltigung wurde.
Zum Auftakt geht das Blitzlichtgewitter der Presse auf den Angeklagten nieder. Dann betreten Zuschauer und Prozessbeteiligte den durch holzvertäfelte Wände von der Außenwelt abgeschirmten Raum des Berliner Landgerichts. Die Kamera wird den Saal in den folgenden 106 Minuten nur für zwei kurze Sequenzen wieder verlassen. Denn Matti Geschonneck und Ferdinand von Schirach folgen ganz den Regularien und Routinen eines Gerichtsprozesses – das ist ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber den nicht wenigen Filmen, die sich schon mit einem Vergewaltigungsvorwurf auseinandergesetzt haben.
Zeugen werden befragt, Sachverständige gehört, Beweisstücke begutachtet. Musik, nachgestellte Szenen, Rückblicke, Gefühlsausbrüche? Auf all dies wartet man vergebens und ist doch hochgradig gebannt. Denn was gedeiht inmitten dieser formalen Ordnung, diesem Anschein von Objektivität?
Brodelnde Emotionen, spontane Parteinahme, klischeegetriebene Vorurteile, nagendes Misstrauen, mitleidvolle Sympathie! Es ist dieses Paradoxon, das die Dramatik dieses meisterhaften Gerichtsfilms gebiert; und Geschonnecks Kunst besteht darin, es voll auszureizen. Regisseur und Autor überlassen in ihrem Kammerspiel in einer Konsequenz, wie man sie nur selten im Fernsehen gesehen hat, dem Wort die Bühne. Und es sind die handverlesenen Darsteller, die daraus mit ihrer hoch konzentrierten Schauspielkunst Hochspannung erzeugen.
Sie füllen subtile Variationen der Stimmlage, kürzeste Blicke mit Bedeutung, entfalten mit mimischem Minimalismus maximale Wirkung, erweisen sich als Meister der Zwischentöne.
Zuallererst Ina Weisse als Katharina Schlüter, die um die vierzig Minuten erhält, um ihre Version der Geschehnisse darzustellen. Sie ringt bei jedem Wort um Gefasstheit, hat sie doch infolge des Prozesses – auch durch die dadurch ausgelösten Shitstorms – ihr bisheriges Leben verloren: ihre Familie, ihre Karriere als Fernsehmoderatorin, ihre Würde, ihr Selbstbewusstsein. Der Profi von Schirach hat sein Figurenensemble spannungsreich konzipiert. Da ist Schlüters Verteidiger, Rechtsanwalt Biegler, der sich flegelhaft wie ein Fünftklässler benimmt, mit seinen sarkastischen Zwischenrufen sein männliches Ego streichelt, dabei aber durchaus Unterhaltungswert an den Tag legt. Eine Rolle, die Matthias Brandt genüsslich ausweidet.
Seine Gegenspielerin, Strafverteidigerin Breslau, ist jung, weiblich, beherrscht, logisch; eine Streber-Juristin, die Schlüter eine erfundene Vergewaltigung aus Rache unterstellt und dabei mit Wetterdaten und einem Kleidungsstück argumentiert. Henriette Confurius wächst in dieser Rolle über sich hinaus. Und was sie und Brandt auf der Geschlechterklischee-Ebene da abliefern, ist eine weitere Erzählung, die „Sie sagt. Er sagt.“ ganz nebenbei mitliefert.
Als Puffer fungiert die Vorsitzende Richterin; Johanna Gastdorf gibt ihr die milde Strenge und Exaktheit einer Pädagogin. Infoblöcke, in vielen Filmen oft nur unbeholfen integriert, fügen sich hier auf natürliche Weise ein, wenn Sachverständige gehört werden und etwa die Psychologin Altstedt (Maria Köstlinger) über Vergewaltigungsmythen aufklärt und mit Studien das ganze Ausmaß von nicht angezeigter sexueller Gewalt gegenüber Frauen vor Augen führt.
Es ist ein schlauer, wenn auch vorhersehbarer Schachzug von Schirachs, den Angeklagten mehr als neunzig Minuten lang nicht zu Wort kommen zu lassen. Godehard Gieses nur in Nuancen bewegte Mine bildet die perfekte Projektionsfläche für Zweifel, Vorurteile, Sympathie und Mitleid des Zuschauers, der in jeder Sekunde auf Thiedes Widerspruch wartet. Der kommt jedoch erst ganz am Schluss.
Aussage gegen Aussage, in dubio pro reo? Durch ein hereingereichtes Blatt erfährt der Prozess eine unerwartete Wendung. Die Richterin kann dem Urteil doch ausweichen, anders als vom Autor eingangs behauptet: Prolog und Epilog – von Schirach spricht beides mit getragener Stimme aus dem Off ein – rahmen die Handlung. Das ist formal tadellos, aber, zumindest, was das Schlusswort betrifft unnötig - und unnötig belehrend.
Es fallen die Begriffe Beweise, Regeln, Wahrheit. Wie sie zwar miteinander zusammenhängen, wie unzureichend sie aber womöglich dennoch sind, diese Lektion erteilt das Justizdrama ja selbst. Es ist der einzige kleine Makel dieses überragenden Fernsehereignisses.
Sie sagt. Er sagt. 26. Februar, 20.15 Uhr, ZDF. Im Anschluss um 22 Uhr folgt eine dreißigminütige Dokumentation. Fernsehfilm und und Doku sind in der ZDF-Mediathek bereits abrufbar.
Schriftsteller und Filmkünstler: Ferdinand von Schirach und Matti Geschonneck
Drehbuch
Ferdinand von Schirach, Jahrgang 1964, wurde als Strafverteidiger in den Berliner Mauerschützenprozessen von 1991 bis 2004 bekannt. Im Jahr 2009, mit 45 Jahren, veröffentlichte er seine ersten Kurzgeschichten, es folgten Theaterstücke, Romane, Erzählungen. Etliche seiner Bücher wurden verfilmt.
Regie
Matti Geschonneck, Jahrgang 1952, ist ein vielfach preisgekrönter Regisseur, der in seinen Fernsehfilmen häufig deutsche Zeitgeschichte verarbeitet. Zuletzt schilderte er in dem ZDF-Filmdrama „Die Wannseekonferenz“ (2022) das historische Nazi-Treffen am Berliner Wannsee, bei dem die millionenfache Ermordung von Juden beschlossen wurde. Er ist mit der Schauspielerin Ina Weisse verheiratet.