Ein Erdbeben der Stärke 7,2 auf der Richterskala hat am Samstag den Südwesten Haitis erschüttert und beträchtliche Schäden hinterlassen sowie hunderte Menschen des Leben gekostet. Der Vorstand des Vereins "Pro Haiti" bemüht sich nun um direkte Kontakte zu den Projektpartnern, um Hilfsmaßnahmen vor Ort zu unterstützen. Foto: Gong/dpa

Als die Menschen im Südwesten Haitis am Samstagmorgen die Erschütterungen spüren, geraten sie in Panik. Zu schlimm sind die Erinnerungen an das Jahrhundertbeben 2010, bei dem vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince rund 20.000 Menschen starben. Große Sorge löst die neuerliche Katastrophe nun auch beim Verein "Pro Haiti" aus.

Gechingen/Aidlingen/Port-au-Prince - Es war gegen 8.30 Uhr Ortszeit am Samstag, als der Inselstaat nach rund elf Jahren erneut von einem heftigen Erdbeben der Stärke 7,2 getroffen wird. Es erschüttert dieses Mal die südwestlichen Landesteile des Inselstaates, wo zwei bis drei Millionen Menschen leben. Besonders betroffen sind die Départements Nippes, Grande’ Anse und Sud, gut 250 Kilometer von Port-au-Prince entfernt.

 

Das Epizentrum wird rund zwölf Kilometer von der Ortschaft Saint-Louis du Sud und damit in der Mitte zwischen den "Pro Haiti"-Projektstandorten Jérémie und Léogâne in zehn Kilometer Tiefe lokalisiert. Am härtesten betroffen sind die Städte Jérémie, Les Cayes und der Ort Les Anglais. Das Beben ist noch in der benachbarten Dominikanischen Republik und in Kuba zu spüren. Aktuell wird von 1400 Menschen berichtet, die beim Beben ihr Leben verloren haben.

Ansprechpartner vor Ort

"Ich konnte es nicht glauben, als ich es in den Nachrichten gehört habe", sagt Martin Hovekamp, Schriftführer von "Pro Haiti", im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Verein versuche gerade, Kontakt mit den Projektpartnern im Westen des Landes aufzubauen (siehe auch "Info"). "Einige haben wir schon erreicht. Unser größtes Projekt ist seit dem Erdbeben 2010 in Léogâne, wo damals das Erdbeben war. Von dort haben wir noch keine Berichte", so Hovekamp weiter. Ansonsten hätten die Projektpartner die jetzigen Beben überlebt und seien sogar telefonisch erreichbar gewesen. Als Folge des Erdbebens von vor rund elf Jahren ist von "Pro Haiti" mit Unterstützung von Caritas International am Ort des Epizentrums das große Ausbildungszentrum CCFPL in Léogâne errichtet worden. Zusätzlich hat der dortige mitinitiierte Selbsthilfeverein "MARK" einige Wohnhäuser erdbebensicher aufgebaut.

Starkregen: Haiti - Tropensturm setzt Menschen in Erdbebenregion zu

Durch die mehr als 25 Jahre andauernde Zusammenarbeit mit haitianischen und deutschen Projektpartnern gerade in der jetzt stark betroffenen westlichen Region Haitis hat "Pro Haiti" mit Sitz in Aidlingen an fünf Standorten persönliche Ansprechpartner, "die es uns schnell erlauben, die Situation vor Ort genauer zu beurteilen und die jeweils passenden Maßnahmen einzuleiten oder zu unterstützen", beschreibt Hovekamp die Vereinsarbeit.

Es hat laut "Pro Haiti" diesmal ein dünner besiedeltes Gebiet als vor elf Jahren getroffen. Steinhäuser mit Betondecke hätten den heftigen Erschütterungen weitaus weniger stand gehalten als Holzhütten. "Soweit bisher bekannt, sind die von ›Pro Haiti‹ erstellten Gebäude jetzt alle ohne größere Schäden geblieben und davon sind auch keine Gebäude eingestürzt. Wie uns der dortige Direktor Père Raymond bestätigte, gilt dies auch für die Gebäude des ›Pro Haiti‹-Ausbildungszentrums CTSJ in Jérémie und das Pro-Haiti-Haus und die Montessori-Schulen, die der Verein in den 1990er-Jahren dort errichtet hat. Auch die Häuser und Dachreparaturen, die ›Pro Haiti‹ in den letzten fünf Jahren seit dem Wirbelsturm Matthew im Jahre 2016 mitfinanziert hat, und die vom haitianischen Selbsthilfeverein ›Omadej‹ dort errichtet wurden, haben anscheinend gut dem neuem Erdbeben standgehalten", so Hovekamp.

Ärztin aus Wolfach geht es gut

Die deutsche Ärztin Anke Brügmann aus Wolfach im Mittleren Schwarzwald, mit der man neben vielen weiteren Helfern zusammenarbeite, sei in Beaumont in den Bergen Haitis und baue dort gerade ein Waisenwohnheim mit Kindergarten und Schule auf: "Zum Glück geht es ihr gut. Alle Kinder sind auch in Ordnung, soweit es sich momentan feststellen lässt. Die Häuser haben kleinere Schäden", teilt "Pro Haiti" auf seiner Homepage mit. Beim Verein befürchtet man, dass es durch das neuerliche Erdbeben wieder vermehrt Waisenkinder in der Region geben wird – so wie schon einige der jetzigen Waisen ihre Eltern vor fünf Jahren beim Wirbelsturm "Matthew" verloren haben. Die Ärztin berichtet folgendes: "Ich habe alle Hände voll zu tun, die Verletzten aus Beaumont zu versorgen. Laufend werden mir Menschen gebracht, die medizinische Hilfe brauchen. Verbandsmaterial ist zu wenig da. Aber dennoch werden die Wunden irgendwie versorgt. Hütten sind eingestürzt und Häuser zum Teil beschädigt." Aktuell sei auch die Nationalstraße zwischen Jérémie und Beaumont blockiert.

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In Jérémie seien einige Häuser in der Altstadt zerstört. Es gebe viele Verletzte, die im Krankenhaus versorgt werden und Tote, "man weiß aber noch nicht, wie viele es sind." Es müsse auf jeden Fall mit vielen Tote und Verletzten gerechnet werden. Auch die Zerstörungen an Wohnungen und Infrastrukturen sind erheblich. "Pro Haiti" werde geeignete Maßnahmen zur Hilfe definieren und unterstützen, so der Verein.

In der Nacht zum Sonntag hat sich nach Mitteilung von "Pro Haiti" in Jérémie ein heftiges Nachbeben der Stärke 5,8 ereignet, dessen Zentrum nur 30 Kilometer südlich in den Bergen lag. Der Kontaktpartner Devallon habe berichtet: "Das Nachbeben in Jérémie war stärker als das Hauptbeben. Es sind noch weitere Häuser eingestürzt und es gab weitere Tote und Verletzte. Das Erdbeben hat am Samstag am späten Abend stattgefunden und aus Angst davor hat niemand im Haus geschlafen. Die Leute sind hochgradig nervös, ganz viele Menschen müssen sich vor lauter Angst und Aufregung erbrechen."

Haiti, das mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola bildet, wird seit vielen Jahren immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht. Zwei Schritte vor und fünf zurück – so ergeht es den Menschen in Haiti, einem der ärmsten Länder der Welt, weil heftige Beben wie das von 2010 und schwere Wirbelstürme das Land immer wieder in seiner Entwicklung zurückwerfen. Ackerflächen werden zerstört und es kommt zu heftigen Überschwemmungen. Ausgerechnet für die kommenden Tage ist erneut ein Tropensturm im vom Erbeben betroffenen Südwesten Haitis vorhergesagt. Hurrikan "Grace" könnte beschädigte Häuser vollends zum Einsturz bringen und die Rettungsarbeiten zum Erliegen bringen.

Einer, der die Verhältnisse vor Ort bestens kennt, ist Franz Groll. Der Gechinger war einst Mitinitiator der "Pro Haiti"-Gründung. Durch viele Projekte und Aktionen hat der Verein seit der Gründung 1993 immer wieder Impulse für positive Veränderungen der Lebensverhältnisse in dem Karibikstaat gegeben. Groll war selbst mehrere Male für Hilfseinsätze vor Ort: von 1994 bis 1999 und von September 2010 bis Juli 2012.

Land gilt als Erbebengebiet

"Nicht schon wieder" – das habe er als erstes nach den Nachrichten vom Erdbeben gedacht. Bis 2010 sei es für ihn nicht vorstellbar gewesen, dass es auf Haiti Erderschütterungen solchen Ausmaßes geben könne: "Ich habe mich jahrelang intensiv auf meinen ersten Hilfseinsatz in Haiti vorbereitet und mich umfassend informiert. Es mag sein, dass das Land unter Experten als Erdbebengebiet gilt, ich habe aber zuvor nie etwas darüber gehört oder gelesen", sagt Groll.

Erschütternd sei für ihn gewesen, dass sich zahllose Menschen in dem betroffenen Gebiet nach dem Nachbeben Samstagnacht erbrochen hätten. Das täten Menschen nur in extremen Angstsituationen, um sprichwörtlich alles loszuwerden, bevor sie reagieren und sich und andere in Sicherheit zu bringen versuchen. "Das der menschliche Körper so reagiert, wusste ich bis dato nicht."

Unsicher ist für den Großteil der Bevölkerung Haitis die Lage schon länger wegen erneuter politischer Gewalt. Erst vor rund vier Wochen war der umstrittene Präsident Jovenel Moïse nachts in seiner Residenz vermutlich von gedungenen Söldnern erschossen worden. Die Tat gilt als ungeklärt. "Die politischen Verhältnisse sind sehr instabil", sagt Hovekamp. Vor allem in der Hauptstadt seien viele Banden unterwegs, Raub und Plünderungen an der Tagesordnung. Deswegen machen sich er und Groll Sorgen, ob die Ware – Maschinenteile und weiteres Material für die Ausbildungszentren – in dem Container, die "Pro Haiti" nun verschiffen lässt, am Bestimmungsort ankommt. "Der Behälter soll am 23. September in Port-au-Prince sein. Dann kann es drei bis vier Monate dauern mit dem Zoll, diesmal womöglich länger, bis der Inhalt weitertransportiert werden kann", befürchtet Groll. Der inzwischen 78-Jährige wird auch diesmal von der Hoffnung getragen, dass die Situation der gebeutelten Bevölkerung sich verbessern lässt – mit Hilfe von "Pro Haiti" und den Partnern vor Ort.

Info: Der Verein

Geschichte: 2018 feierte "Pro Haiti" 25-jähriges Bestehen. Am 14. September 1993 wurde der Verein von 23 Personen in Aidlingen gegründet. Es ist laut Vorstand ein besonders erfreulicher Umstand, dass er über die Orts- und Kreisgrenzen hinweg eine sehr erfolgreiche Zusammenarbeit bewirken konnte, die inzwischen auch im weitem Umkreis bekannt geworden ist.

Ebenso sind viele Vereinsmitglieder dem "Verein zur Förderung von Entwicklungsprojekten in Haiti e. V." seit der Gründung treu geblieben und können auf eine erfolgreiche Zeit zurückblicken, in der viele Projekte der Hilfe zur Selbsthilfe mit haitianischen Partnern aufgebaut und umgesetzt wurden.

Ziele und Satzungszweck: Der Verein unterstützt ideell und materiell Entwicklungsprojekte in Haiti, die eine wirksame Hilfe zur Selbsthilfe für die Bevölkerung, insbesondere der des ländlichen Raumes, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht bedeuten. Die Projekte müssen mit einem haitianischen Träger abgestimmt sein.

Projektförderung: Berufsausbildung in Mechanik, Elektrotechnik, Kfz-Technik, Einrichtung von Werkstätten für Kooperativen (Startkapital) für ausgebildete Schulabgänger

Schwerpunkte: Jérémie (Region Grand’Anse) und Léogâne (Region Port-au-Prince)