Jubel - oder doch Unverständnis? Was die Menschen in der Innenstadt über einen späteren Schul- oder Arbeitsbeginn halten, lesen Sie in unserer Bildergalerie. Klicken Sie sich durch! Foto: dpa

Alle vier Jahre wieder: Die Welt dreht sich einen Monat lang nur um Fußball. Sogar die Schulen machen mit. Sie können den Unterricht nach hinten verschieben. Was die Menschen davon halten, lesen Sie in unserer Bildergalerie. Klicken Sie sich durch!

Stuttgart - Damit die Schüler bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien (12. Juni bis 13. Juli) nicht völlig verschlafen zum Unterricht erscheinen, sollen die Schulen die erste Stunde ausfallen lassen. Zumindest haben sie den Segen des Kultusministeriums, dies von Spiel zu Spiel zu entscheiden. Die oberste Schulbehörde des Landes wird die Schulleiter in Kürze darauf hinweisen, dass der Unterricht während der WM eine Stunde später anfangen kann. Einige Spiele beginnen aufgrund der Zeitverschiebung erst spät am Abend, darum „ist an den darauffolgenden Vormittagen mit entsprechender Müdigkeit im Unterricht zu rechnen“, sagt Minister Andreas Stoch (SPD). „Die Entscheidung darüber liegt aber vor Ort.“ Die Schulen beschlössen ja auch, wann genau der Unterricht morgens zwischen sieben und acht Uhr beginne.

Zwar können die Schulen den Unterricht während des Turniers später beginnen lassen, doch stellt sie das vor organisatorische Probleme. Beim größten Gymnasium im Südwesten, dem Marbacher Friedrich-Schiller-Gymnasium, kommen die 2300 Schüler aus einem großen Einzugsgebiet. Die Schulbus-Verbindungen sind auf die erste Stunde ausgelegt. „Diese auf die zweite Schulstunde umzudisponieren würde zum Chaos führen“, heißt es im Sekretariat.

Witgar Weber relativiert. „So schlimm wird es schon nicht kommen“, sagt der Geschäftsführer des Verbands Baden-Württembergischer Omnibusunternehmen (WBO). Zwar seien die Busunternehmer in der Schülerbeförderung mit ihren Kapazitäten auf die erste Stunde ausgelegt. Bei rechtzeitiger Information durch die Schulen ließe sich das Problem aber in den Griff bekommen. In den Städten rechnet Weber mit „überhaupt keinen Problemen“, auf dem Land allenfalls „in Einzelfällen“. Dass im Juni und Juli die Abschlussklassen von Realschule und Gymnasium schon nicht mehr zur Schule gingen, vereinfache die Schülerbeförderung obendrein.

„Schule ist nicht wichtig, Fußball ist wichtiger“

Der Leiter der Arbeitsgemeinschaft der Realschulrektoren, Kurt Pilsner, findet die Flexibilität für die Schulen gut, sieht aber Schwierigkeiten beim Umsetzen. „Denn an den Unterricht schließen sich am Nachmittag Aktivitäten der Schüler an, die nicht nach hinten geschoben werden können“, erklärt er. Der ausgefallene Unterricht müsse ja nachgeholt werden. „Die Schulpflicht kann nicht durch die WM ausgehebelt werden.“ Da viele Schüler Migrationshintergrund haben, müssen auch Spiele mit deren Heimatmannschaften berücksichtigt werden. „Das wäre schon eine organisatorische Herausforderung“, meint Pilsner.

    Der Landesschülerbeirat begrüßte die Entscheidung des Kultusministeriums. „Wir freuen uns, dass an Schüler und Lehrer gedacht wird, indem den Schulen eine Verschiebung des Unterrichts gestattet wird“, sagt die Vorsitzende Johanna Lohrer. Dabei sei es wichtig, an den Schulen eine gemeinsame Entscheidung zu finden, mit der alle leben könnten.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) differenziert zwischen Vorrunden- und Ausscheidungsspielen. Stehe etwa die deutsche Nationalelf im Finale, könne man „ein Auge zudrücken“, meint VBE-Landeschef Gerhard Brand. Der Stundenplan müsse aber eingehalten und ausfallender Unterricht nachgeholt werden.

Werner Weber, Landesvorsitzender der Schulleitervereinigung, beurteilt eine Verlegung von Unterricht skeptisch: „Was für ein Signal ist das an die Kinder? Das bedeutet doch, Schule ist nicht wichtig, Fußball ist wichtiger.“ Die Eltern hätten es in der Hand, ob die Schüler die Spiele sehen dürften, sagt Weber, selbst bekennender Fußballfan. Er rechnet damit, dass die Rektoren an ihren Schulen kurzfristig entscheiden werden, ob Unterricht verlegt wird.

Matthias Schneider von der Lehrergewerkschaft GEW sieht die Sache gelassener. Gerade am Schuljahresende werde der Unterricht öfter mal nach hinten verschoben, etwa bei Schulgottesdiensten oder anderen internen Veranstaltungen. „Die Schulen haben Erfahrung damit, die kriegen das schon hin“, meint Schneider. Doch auch er weiß, dass nach den Pfingstferien (9. bis 20. Juni) an vielen Schulen noch einmal eine heiße Phase mit vielen Klassenarbeiten ansteht.

Die Vorrundenspiele der deutschen Nationalmannschaft dürften Schüler und Lehrer vor dem nächsten Schultag genügend Schlaf ermöglichen. Die Begegnungen gegen Portugal und die USA werden um 18 Uhr deutscher Zeit angepfiffen; das späte Spiel gegen Ghana (21 Uhr) ist an einem Samstag.

Schwieriger gestaltet sich der Spielplan für Fans der italienischen, kroatischen oder griechischen Auswahl. Deren Spiele beginnen teilweise erst um Mitternacht. Erst mal ernst werden könnte es für alle deutschen Schüler im Achtelfinale. Dieses ist an einem Montag- oder Dienstagabend um 22 Uhr angesetzt. Gleiches gilt für ein mögliches Halbfinale des DFB-Teams, das sich mit Verlängerung und Elfmeterschießen bis weit in die zweite Nachthälfte hineinziehen könnte.

Immerhin: Zentrale Vergleichsarbeiten fallen dieses Mal nicht mit der WM zusammen. Die landesweit stattfindenden Tests beschäftigten die Schüler bei der Heim-WM 2006 ausgerechnet am Morgen nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien – ein Spiel mit Verlängerung.

Im Königin-Charlotte-Gymnasium in Stuttgart-Möhringen ist die Entscheidung bereits gefallen: „Hier ist nichts angedacht, der Unterricht wird wie geplant stattfinden“, teilte das Sekretariat mit. Auch in der Österfeldschule in Stuttgart-Vaihingen wird sich an den Unterrichtszeiten nichts ändern. Schulleiterin Erika Diemer-Hohnholz verweist auf das Konzept der verlässlichen Grundschule: „Die Eltern müssen arbeiten und sind auf die Betreuung angewiesen. Darum ist eine Verlegung des Unterrichts bei uns nicht machbar“, erklärt sie.

Nicht nur an Schulen, auch in vielen Unternehmen sind die späten Anstoßzeiten bei der WM ein Thema. „Wir wissen natürlich um die Fußball-Leidenschaft unserer Beschäftigten“, sagt ein Sprecher des Technikkonzerns Bosch. „In der Regel ist es so, dass sich die einzelnen Standorte etwas einfallen lassen.“ Wer während der Spiele Spät- oder Nachtdienst habe, könne in Absprache etwa zwischendurch ausstempeln und die freien Fußballstunden nachholen.

Auch Arbeitgeber zeigen sich flexibel

Gewerkschaftsvertreter hatten deshalb spätere Frühschichten gefordert. „Wenn Spiele spät nachts stattfinden, dann guckt doch, dass ihr eure Arbeitnehmer am nächsten Tag einfach mal eine Stunde oder zwei Stunden später anfangen lasst“, hatte etwa Carsten Burckhardt, Vorstandsmitglied der IG Bau, gefordert.

Spätere Frühschichten für Mitarbeiter führt Bosch zwar nicht ein. „Oft gibt es aber die Möglichkeit, dass Mitarbeiter eine Schicht mit jemanden tauschen, der vielleicht weniger Fußballinteresse hat“, sagt der Sprecher.

Flexibel zeigt sich auch Autobauer Daimler: „In der Vergangenheit haben wir es unseren Mitarbeitern in der Regel ermöglicht, die Spiele zu sehen“, sagt eine Sprecherin. Fans hätten dann entweder die Spätschicht früher beenden oder später in die Frühschicht starten dürfen.

So locker sieht man das nicht überall: „Nur weil Fußball-WM ist, steht die Welt ja nicht still“, sagt ein Sprecher des Filterherstellers Mann + Hummel. „Wir haben Verpflichtungen gegenüber unseren Kunden“, betont der Mittelständler. Das Schichtmodell für die WM ändern? Kommt nicht infrage. „Wenn wir für jeden die Extrawurst braten, dann können wir uns aufs Bratwurstbraten konzentrieren, aber nicht darauf, für unsere Kunden Filter zu bauen.“

Fragt man die Mitarbeiter selbst, schrumpft die Schar der Fußballfreunde allerdings doch beträchtlich, wie aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid für das Magazin „Reader’s Digest“ hervorgeht. Demnach gaben 65 Prozent der Befragten an, die Arbeit gehe eindeutig vor. Die Mehrheit ist auch nicht bereit, für das TV-Vergnügen unbezahlten Urlaub zu nehmen.

Was die Menschen in der Stuttgarter Innenstadt davon halten, den Schul- oder Arbeitsbeginn nach hinten zu verlegen, lesen Sie in unserer Bildergalerie. Klicken Sie sich durch!