"Lokale Lösungen für globale Fragen zu finden, geht nur im Konsens" – das verdeutlichte Projektberater Bastian Wetzke im Althengstetter Gemeinderat. Die Gäukommune tüftelt derzeit am Verkehr der Zukunft. Das wird teils emotional diskutiert, etwa Tempo 30 in Durchgangsstraßen.
Althengstett - Althengstett wurde 2020 als Modellkommune des Kompetenznetzes "Klima Mobil" ausgewählt und wird entsprechend finanziell gefördert. Dieses unterstützt Kommunen in Baden-Württemberg, die beim Klimaschutz im Verkehr neue Wege gehen wollen. Von 41 Bewerbungen aus ganz Baden-Württemberg wurden von der Jury des Netzes 15 Modellkommunen ausgewählt, die hochwirksame Maßnahmen zum Klimaschutz im Verkehr umsetzen – darunter Althengstett. Seither wird in der Gäukommune an der Mobilität der Zukunft getüftelt, das die Bewohner des Ortes zum Umdenken bringen soll. Auf alle Fälle aber müssen die Verkehrsströme anders und ganz neu gelenkt werden, wenn die Hermann-Hesse-Bahn fährt. Der Schulwegeplanung wird dabei viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Aus Gründen der Verkehrssicherheit und für eine bessere Aufenthaltsqualität im Ortsteil Althengstett soll nun für die Durchgangsstraßen innerorts in den Wohngebieten Tempo 30 bei der unteren Verkehrsbehörde im Landratsamt beantragt werden, wofür ein Straßenverkehrskonzept Voraussetzung ist. Genau um dieses ging es am Mittwochabend in der Ratssitzung in der Festhalle. Das geplante Tempolimit, dass dann in der Gechinger Straße, Simmozheimer Straße, Hauptstraße und Stuttgarter Straße gelten würde, treibt die Bevölkerung um, wie mehrere Wortmeldungen aus den Zuhörerreihen zeigten. Es polarisiert: Die einen erhoffen sich mehr Lebensqualität, die anderen befürchten, nicht schnell genug von Fleck zu kommen, vor allem zu Zeiten, zu denen die Strecken mit Tempolimit kaum oder gar nicht befahren sind, also nachts.
Nicht alles auf einen Schlag umsetzbar
Wetzke, der der Kommune als Projektberater zur Seite gestellt wurde, und Bürgermeister Clemens Götz betonten, dass nicht alle im Konzept vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung auf einmal umsetzbar seien. Sie machten deutlich, dass es vielmehr um ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Mobilität geht – etwa den Umstieg vom Auto auf Fußgänger- und Radverkehr. Wetzke zog einen Vergleich zur 15-Minuten-Stadt Paris, wo alles Wichtige in 15 Minuten mit dem Rad erreicht werden kann: Supermarkt, Ärztehaus, Schulen und Erholungsorte. "Das ist auch in Althengstett machbar", verwies der Berater auf die gute Hengstetter Versorgungsstruktur von Bäcker, über Lebensmitteleinzelhandel bis hin zur Postfiliale. Deutschlandweit würden momentan rund 200 Kommunen das Tempolimit 30 fördern. Ob es durch Tempo 30 Schleichverkehre im Ort gebe, müsse man sich genau anschauen. Durchfahrtsverbote und Einbahnstraßen könnten in diesem Fall Abhilfe schaffen.
Gemeinde kann sich in Startposition bringen
Was so genannte Begegnungszonen betrifft, könne sich Althengstett über das Konzept für die Mobilität der Zukunft "in Startposition bringen", sagte Wetzke. Das entsprechende Schild kennzeichnet Straßen in Wohn- oder Geschäftsbereichen, auf denen die Fußgänger und Nutzer von fahrzeugähnlichen Geräten die ganze Verkehrsflächen benützen dürfen. Sie sind gegenüber den Fahrern vortrittsberechtigt, dürfen jedoch die Fahrzeuge nicht unnötig behindern. Die Zone wurde ursprünglich in der Schweiz eingeführt, ist inzwischen aber auch in Belgien, Österreich und Frankreich gängig, in Deutschland nicht. "In Sylt wird bereits mit solchen Begegnungszonen experimentiert", berichtete Wetzke.
"Es wird zu viel und zu schnell gefahren", sagte Gemeinderat Rainer Kömpf (Unabhängige Wähler). Es breche sich keiner einen Zacken aus der Krone, wenn er statt 50 künftig 30 Kilometer pro Stunde fahre. Und: "Faktisch haben wir schon Tempo", weil man an vielen Stellen im Ort gar nicht schneller fahren könne. Man müsse nun "Tempo 30 rechtlich hinkriegen". Für Hartmut Weber und Jörg Nonnenmann (beide Freie Wähler) hat Sicherheit Priorität. "Es muss eigentlich gar nicht darüber diskutiert werden, ob man Tempo 30 einführen soll", ist Nonnenmann überzeugt. Tempo 20, wie es der Gemeindeverwaltung bereits in den (untergeordneten) Wohnstraßen vorschwebt, "braucht es in weiten Teilen Althengstetts nicht", so Nonnenmann. Er schlug vor, in der nächsten Sitzung getrennt über Tempo 20 und Tempo 30 abzustimmen.
Was die Anbindung an die Hesse-Bahn angeht, sprach sich Thomas Schmidt (Freie Wähler) für einen Pendelbus zwischen den Ortsteilen zum Bahnhaltepunkt aus: "Darauf sollten wir drängen".
"Eine Zumutung"
"Von einer Zumutung bei Tempo 30 auf kerzengeraden Straßen", auf denen alles gut einsehbar sei, sprach Gemeinderätin Ute Steinheber (CDU). Sie fühle sich durch ein solches Limit bevormundet und belehrt, "das macht mich als Autofahrerin aggressiv". Sie werde dem Konzept für die 30er-Zonen nicht zustimmen, kündigte sie im Vorgriff zur Juli-Sitzung an. Ihr Fraktionskollege Rüdiger Klahm kann sich mit Tempo 30-Zonen nur innerorts anfreunden, "aber nicht vom Starenweg bis vor zur Post und von den Bahngleisen bis zum Hengstetter Hof".
Einen widersinnigen Umstand sprach Eckhard Flik (Grüne), der klar für Tempo 30 ist: "Eltern fahren ihre Kinder aus Angst, dass ihnen auf dem Schulweg etwas passiert, selbst zur Schule. Dabei gefährden Elterntaxis andere Kinder".
Warum nur ein Konzept für den Ortsteil Althengstett?
Angelika Holzäpfel (CDU) wollte wissen, warum das vorgelegte Konzept sich nur auf Althengstett beschränkt. "Neuhengstett und Ottenbronn sind aus formalen Gründen nicht dabei", erklärte der Rathauschef. Althengstett sei das fest umrissene Gebiet als Modellkommune. Da man sich bislang ohne Erfolg um Tempo 30 in Ottenbronn bemüht habe, biete das vorgelegte Konzept jetzt die Chance dafür: "Es ist zukunftsweisend", äußerte sich Ortsvorsteher Richard Dipper (SPD). Philipp Jourdan (Grüne) sprach sich dafür aus, mit dem in vier Wochen anstehenden Ratsbeschluss das Tempolimit gleich für die beiden Ortsteile Neuhengstett und Ottenbronn mut zu beantragen. Und Tempo 20 in den Wohnstraßen "kann ich mittragen".
Thomas Schmidt brachte es schließlich auf den Punkt: "Es geht jetzt um einen Paradigmenwechsel. Der Mensch steht wieder im Mittelpunkt und nicht das Auto". Bis zum 20. Juli haben Räte und Bevölkerung Zeit, sich mit dem Straßenverkehrskonzept zu beschäftigen. Dann soll der Gemeinderat endgültig über den Konzeptvorschlag abstimmen.
Info: Die 15-Minuten-Stadt
Eine neue Idee der Stadtgestaltung gewinnt weltweit immer größeren Zulauf: die 15-Minuten-Stadt. Die Idee dazu stammt von Carlos Moreno, Leiter des Institut ETI – Entrepreneuriat, Territoire, Innovation – an der Sorbonne in Paris. In der Stadt der kurzen Wege soll es den Bewohnern möglich sein, innerhalb kürzester Zeit zur Arbeitsstätte, Wohnung und Freizeitmöglichkeiten zu gelangen. Das Fahrrad soll einer der Hauptverkehrsträger sein. Das Institut untersucht die Zusammenhänge zwischen geografischem Umfeld und unternehmerischem Handeln. Viele Großstädte setzen die Idee der 15-Minuten-Stadt mittlerweile in die Tat um, darunter Paris, Wien, Berlin und Hamburg.
Die 15-Minuten-Stadt zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Einwohner vom Wohnort aus alle wichtigen Orte in 15 Minuten mit dem Rad erreichen kann. Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, Kindergärten, Ärzte, Parkanlagen, Kultur- und Sportangebote sollen dezentral über die Kommune verstreut sein.
Gerade durch die Corona-Pandemie haben Großstädte ihren besonderen Charme zumindest vorübergehend verloren. Kultureinrichtungen, Museen, Geschäfte und Restaurants haben geschlossen und viele Bewohner empfinden die Stadt als nicht mehr so lebenswert. Es wird immer wichtiger, dass im eigenen Umfeld alle Güter des täglichen Bedarfs und alle wichtigen Anlaufstellen wie Ärzte zu finden sind. Viele Städte wollen sich jetzt stärker danach ausrichten (Quelle: Innovators Club).