Ein Schüler wirft auf dem Schulhof deinen anderen zu Boden. Kinder, die vor allem cool sein wollen, tun sich schwer damit, Mobbing als Problem anzuerkennen und zu lösen, berichten US-Forscher im Fachmagazin „Child Development“. Foto: dpa

Ein Mobbingopfer und ein Grundschulpädagoge diskutieren darüber, wann Mobbing anfängt und wie es sich verändert hat.

Stuttgart - Gabriele Brenner wurde das Opfer von Mobbern. Dieses Erlebnis hat sie stark geprägt. Sie gründete eine Selbsthilfegruppe und berät heute Mobbingopfer. Thomas Irion, Professor für Grundschulpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd, befasst sich mit Mobbing im Internet, dem sogenannten Cyberbullying. Ein Gespräch darüber, was Mobbing ist und was man dagegen tun kann.

Herr Irion, ist Lästern auf dem Schulhof schon Mobbing?
Irion: Wenn ich systematisch anfange zu lästern, wenn ich Spaß daran habe und das weiterführe, dann kann aus Lästern Mobbing werden. Natürlich gehört Lästern auch zur menschlichen Kommunikation. Man kann sein Erstaunen und seinen Ärger ausdrücken. Lästern kann aber auch ein Anzeichen für eine unzureichende Kommunikationskultur sein. Dann gilt es schon darüber nachzudenken, inwiefern hier eine gewisse systematische Routine vorliegt, wenn immer wieder über dieselbe Person gelästert wird. Das Lästern über Möchtegernstars in Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ wird zum Lästern über Mitschüler, weil sie angeblich zu fett, zu blöd oder einfach anders sind. Mobbing ist das noch nicht, da das Ziel einer Schädigung fehlt, aber es kann Mobbing daraus werden.
Brenner: Die Tatsache, dass Neue Medien spielerisch eingesetzt werden, ist eine tolle Sache. Nutzer dieser Medien müssen jedoch wissen, dass sie niedrigschwellige Konfliktquellen darstellen. Versehentlich ein Wort – und ein Flächenbrand in der ganzen Gruppe entsteht. Schnell wird das falsche Wort mangels Fehlerkultur und hohem Perfektionsanspruch Anlass für Ausgrenzung, für Mobbing. In der realen Welt ohne Medien würde die Gruppe vielleicht über den Fehler kurz ablästern. Das wäre nicht schlimm.
Irion: Das ist für Sie normal?
Brenner: Ablästern im Sinne von Ärger ablassen, sich von Unzufriedenheit frei machen, wieder für reine Luft sorgen ist gut und gehört zur Pflege einer gesunden Psyche. Falsch wird es, wenn Grenzen überschritten werden, mangelnde Empathie und Ausgrenzung ins Spiel kommen.
Frau Brenner, was genau ist dann Mobbing?
Brenner: Wir von der Selbsthilfegruppe orientieren uns an der Definition eines Richters. Er hat gesagt: Mobbing ist das systematische Anfeinden, Schikanieren oder Diskriminieren durch Vorgesetzte und Mitarbeiter. Es wird ein Umfeld geschaffen, das von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen und Beleidigungen geprägt ist. Wir beschränken uns nicht auf Mobbing am Arbeitsplatz. Das hilft uns, die Täter- und Opferseite besser zu verstehen. Die Lösungswege werden besser.
Wie sieht es in der Schule aus?
Irion: In Definitionsversuchen zu Schulmobbing sind Handlungen mit dem konkreten Ziel der Schädigung Mobbing. Wobei es da sicher auch Grenzfälle gibt. Es gibt Fälle, in denen dem Opfer, aber auch dem Täter gar nicht so richtig bewusst ist, was da passiert. Es gab zum Beispiel im Internet die Seite „isharegossip“. Da konnten sich Jugendliche über ihre Lehrer oder über Mitschüler austauschen. Diese Seite wurde sehr stark zum Lästern und auch für Mobbing genutzt. Hacker legten die Seite still, um dem ein Ende zu machen. Doch suchen immer mehr Schüler nach Alternativen. Auf einer Homepage fragt ein Mädchen etwa: „Wo kann man denn im Internet mal so richtig lästern?“ Wenn das Objekt der Lästereien dann die manchmal monatelangen Schmähungen liest, kann dies für das Opfer dramatisch sein, es fühlt sich gemobbt. Grundsätzlich gilt: Mobbing findet über einen längeren Zeitraum statt, und es entsteht ein Machtungleichgewicht zwischen Täter und Opfer.
Brenner: Sie sagten gerade, dass der Täter nicht unbedingt eine Schädigung beabsichtigt. Aber selbst bei Erwachsenen erleben wir diese Gedankenlosigkeit. Auch für sie zählt der Spaßfaktor. Oft erstreckt sich die mangelnde Weitsicht bis in die oberste Führungsebene hinein. Die Täter müssten erfahren, dass sie nicht nur Menschen krank machen, sondern Existenzen ruinieren.
Irion: Mobbing kann sehr negative Folgen haben. Aber gerade im Bereich des Internet ist es so, dass die Folgen unter Umständen gar nicht absehbar sind. Beim Cyberbullying sehe ich zumeist nämlich nicht, welche Folgen meine Handlungen nach sich ziehen.
Was ist denn Cyberbullying ganz konkret?
Irion: Diskriminierende Whats-App-Nachrichten zum Beispiel, die dem Opfer systematisch geschickt werden. Das können kurze Texte, auch Fotos sein, die ihn ärgern. Auch können beispielsweise Facebook- Passwörter geknackt und auf meiner Seite diskriminierende Inhalte platziert werden. Dabei wird so getan, als hätte ich diese Inhalte veröffentlicht. Immer häufiger werden auch diskriminierende Handyfilme ins Internet gestellt. Bis so etwas rauskommt, kann es teilweise sehr lange dauern. 

"Mobbingsituation kommt jetzt direkt nach Hause"

Hat sich Mobbing mit dem Internet verändert?
Irion: Mobbing auf dem Schulhof geschieht in Echtzeit. Lästern im Internet zeigt seine Wirkung manchmal sehr viel später und wird erst zeitversetzt zu einem vielleicht sogar unbeabsichtigten Angriff. Wie ginge es Ihnen, wenn Sie feststellen, dass sich eine Gruppe trifft, die seit mehreren Monaten über Ihr Aussehen und Ihr Verhalten lästert, verfremdete Fotos veröffentlicht und Sie wissen, dass nicht nur Sie, sondern auch fremde Personen das noch monate- oder jahrelang lesen können?
Frau Brenner, sehen Sie das auch so?

Brenner: In den drei Jahren Selbsthilfe gegen Mobbing wurde nicht ein Fall von Cyberbullying besprochen. Unsere Mobbingopfer erleben Mobbing im Realen. Man würde glauben, dass die Täter weich werden, wenn sie sähen, wie sehr das Opfer leidet.

Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schulhof und dem, was im Internet passiert?
Irion: Ja, die Reichweite ändert sich. Die Mobbingsituation kommt jetzt direkt nach Hause. Das Internet ist durch Smartphones für Jugendliche jederzeit verfügbar. Und da für Heranwachsende der Austausch mit Freunden sehr wichtig ist, nutzen sie diese Möglichkeit leidenschaftlich. Wenn sie aber per Cyberbullying gemobbt werden, dann entkommen sie den Mobbern eigentlich nie. Für Erwachsene ist es selbstverständlich, das Handy einfach abzuschalten, für die Jugendlichen ist das keine Alternative, weil sie dann den Kontakt zu ihren Freunden verlieren würden.
Hat Mobbing mit dem Internet zugenommen?
Brenner: Zum Mobbing in der realen Welt ist die Internetwelt hinzugekommen. Das Internet hat die Kommunikation beschleunigt, aber nicht unbedingt die Qualität der Kommunikation verbessert. Ich habe keine Zahlen, kann mir aber gut vorstellen, dass Mobbing mit dem Internet zugenommen hat.
Irion: Dazugekommen ist das Cyberbullying. Immerhin stagnieren die Zahlen laut Studien. Physische Gewalt auf Schulhöfen hat nicht zugenommen, aber die Gewalttaten werden härter: Wer am Boden liegt, auf den wird noch mal eingetreten. Auch verbale Gewalt nimmt zu. Es muss aber bedacht werden, dass die Dunkelziffer bei Mobbingopfern sehr hoch ist. Wichtig zu wissen für Lehrer und Eltern ist, dass in Grundschulen mehr gemobbt wird als in weiterführenden Schulen. Man geht von über zehn Prozent Mobbingopfern in der Grundschule aus. Im Schnitt kommt es also zu zwei bis drei Mobbingfällen pro Schulklasse.
Gibt es Menschen, die immer in der Opferrolle sind?
Irion: In der Schule gibt es das Phänomen, dass Kinder, die in der Grundschule schon gemobbt wurden, manchmal – nicht immer – auch an weiterführenden Schulen gemobbt werden. Für sehr wichtig halte ich, dass Schulen und Lehrer die Augen für das Problem noch stärker öffnen. Es gibt zwar typische Merkmale von Mobbingopfern, wie geringes Selbstbewusstsein oder geringe Selbstständigkeit, wichtiger aber ist, dass Schulen von dem Problem wissen und die richtigen Maßnahmen treffen.
Brenner: Ein schwacher, introvertierter oder ein kränkelnder Mensch ist meistens Opfer. Man möchte dann sagen, dass der Extrovertierte kein Mobbingopfer ist. Das stimmt aber nicht. Zum Beispiel 50-Jährige mit hoher Kompetenz, die einen neuen Arbeitsplatz angenommen haben, werden in der neuen Firma gemobbt.