Netzwerkmarketing, bei dem Vertriebler Produkte verkaufen und neue Partner anwerben sollen, erlebt in sozialen Medien eine Renaissance. Doch der Sprung in die finanzielle Freiheit ist nicht ungefährlich.
Stuttgart - Eigentlich sollte Paul jetzt erfolgreich sein – das hatten sie ihm in Aussicht gestellt. Viel Geld sollte er besitzen und ein gutes Leben führen. Eigentlich. Paul, dessen Name wir geändert haben, sitzt stattdessen vor einem Schuldenberg von rund 15 000 Euro. Bis vor einiger Zeit studierte er im dritten Semester BWL. Dann brach der Mittdreißiger sein Studium ab. Warum?
Paul ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Menschen auf professionelle Abzocker hereinfallen können, weiß Sarah Pohl, Leiterin der zentralen baden-württembergischen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen (Zebra). „Er hat sein Studium aufgegeben, um Vertriebler für Fitnessprodukte zu werden.“
Großeltern geben erstes Geld
Seinen Anfang nimmt Pauls Geschichte in einem Fitnessstudio. Dort lernt Paul, damals noch Student, den nur wenige Jahre älteren Max (Name geändert) kennen. Max zieht Paul mit einer Idee in den Bann. Fitnessprodukte seien derzeit ein lukratives Geschäft. Paul könne gerne einsteigen, wenn er auch vom großartigen Gewinn profitieren möchte, sagt Max. Paul steigt ein.
Das anfangs benötigte Geld leiht er sich von Oma und Opa. Doch der Gewinn bleibt aus. Die Situation eskaliert immer weiter: Paul soll Freunde und Familienmitglieder von den Produkten überzeugen und zum Kaufen bringen. Doch die nehmen ihm entweder nur aus Gefälligkeit etwas ab oder distanzieren sich von ihm.
Multi-Level-Marketing: ein boomender Bereich
Die Eltern von Paul wenden sich in der Folge an die Zebra, um Klarheit über das zu bekommen, was ihr Sohn so fanatisch verfolgt. Das System, in das Paul einstieg, nennt sich Multi-Level-Marketing (MLM) – ein seit Jahren wachsender Bereich. Die Idee hinter MLM, auch Network-Marketing oder Direct Marketing Business genannt, ist folgende: Eine Firma beschäftigt freiberufliche Vertriebler, die von Person zu Person Produkte verkaufen und hier und da neue Verkäufer werben sollen. Das wohl prominenteste Beispiel für ein MLM-Unternehmen ist Tupperware.
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MLM-Systeme sind also legal. Zu satten Gewinnen für die frisch angeworbenen Vertriebler führen sie allerdings in den seltensten Fällen, heißt es in einer Untersuchung der amerikanischen Verbraucherschutzbehörde FTC: „Die Verlustraten sind immens – bei über 99 Prozent“ der beobachteten Fälle. Dennoch werde das Ganze als Einkommens- oder sogar Geschäftsmöglichkeit beworben.
Das Versprechen vom heiligen Gral
Auf Social-Media-Plattformen wie Youtube oder Instagram gibt es zuhauf Videos, in denen ein vermeintlich erfolgreicher Mensch für sein MLM-System wirbt. Der Ablauf dieser Werbeclips ist meist gleich. Vor luxuriöser Kulisse, sei es in einer Villa, in einem Sportwagen oder in Unternehmensräumen, sitzt ein Mann, der große Versprechungen macht.
„Früher, da war ich genau so wie ihr im Hamsterrad gefangen. Jetzt habe ich die finanzielle Freiheit gefunden“, heißt es etwa. Der heilige Gral: Network-Marketing beziehungsweise MLM. Damit könne jeder viel Geld verdienen. Was folgt, ist die Einladung zu einer Veranstaltung entweder online oder offline, in der präsentiert werden soll, wie man in das Geschäft einsteigt.
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Auch Paul besuchte solche Massenveranstaltungen. Die Stimmung dort ist für die Teilnehmenden überwältigend, dank aufwendiger Lichteffekte, großartiger Inszenierungen und einer begeistert jubelnden Menge. Für die Teilnahme wird eine Gebühr fällig – häufig von mehreren Hundert Euro.
„Manchmal sind die Angebote aber auch kostenlos“, sagt Sarah Pohl von der Beratungsstelle. „Schnell fühlt man sich dann verpflichtet, eine Gegenleistung zu erbringen.“ Die wiederum habe häufig einen höheren Wert als das eigentliche Geschenk.
Ein neuer Trend
Mittlerweile ist der Bekanntheitsgrad von MLM-Systemen extrem gestiegen. Viele verbinden damit zwielichtige Geschäftsmethoden. Für die vermeintlichen Experten in den Werbeclips ist das ein Grund, sich anzupassen. Immer wieder heißt es in Videos aktuelleren Datums: „Keine Sorge, hier geht es nicht um Network-Marketing oder so was. Ich zeige euch, wir ihr selbst es schaffen könnt, erfolgreich zu werden.“
Das neue „Erfolgsmodell“ lautet Coaching. Angebliche Fachmänner erklären erneut bei Massenveranstaltungen oder „streng limitierten“ Online-Seminaren, welche Schritte nötig sein sollen, um viel Geld zu verdienen. „In der Regel werden dann allerdings Allgemeinplätze vorgebracht, die in jedem Karriereratgeber stehen und als eigenes Produkt vermarktet werden“, sagt Pohl.
Coach sein kann jeder
Als Coach kann im Grunde jeder arbeiten, denn der Begriff ist rechtlich nicht geschützt. Laut dem Institut für Bildungscoaching in Leipzig gibt es zudem „keine staatlich anerkannte Ausbildung“ sowie keine Qualitätsstandards für Coaches.
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Bei der Zebra melden sich rund fünf- bis zehnmal pro Monat Menschen – oder deren Angehörige –, die auf Abzocker im Bereich Multi-Level-Marketing oder Coaching hereingefallen sind, sagt Pohl. Auch Paul habe sich nach einiger Zeit bei der Beratungsstelle gemeldet – „und schlussendlich eingesehen, dass er auf das falsche Pferd gesetzt hat“.
Bekannte Betrugsmaschen
Schneeballsystem
Die Grenze zwischen Network-Marketing und einem illegalen Schneeball- oder Pyramidensystem ist oft fließend. Während beim Network- Marketing noch primär Produkte verkauft werden sollen, erhalten Vertriebler beim Schneeballsystem lediglich Provisionen für das Anheuern anderer Menschen. In der Theorie kommt so mit immer mehr Menschen auch mehr Geld in die Kasse. In der Praxis hat sich diese Pyramidenkette schnell erschöpft und die unteren Vertriebler gehen leer aus.
Ponzi-Schema
Das Ponzi-Schema geht auf den italienischen US-Immigranten Charles Ponzi (1882 bis 1949) zurück. Das illegale System: Anbieter, etwa von Hedgefonds, versprechen Investoren besonders hohe Renditen und liefern dafür vermeintlich glaubwürdige Dokumente. In Wirklichkeit landet das Geld allerdings auf dem Konto des Anbieters. Die Investoren sind hingegen mit den angeblich hohen Renditen zufrieden und lassen ihr Geld beim Betrüger liegen. Wollen sie es ausgezahlt bekommen, gibt der Anbieter das Geld anderer Anleger heraus. Solange mehr Geld reinkommt als abfließt, funktioniert das System.