Seit 2012 hat der MTV Stuttgart stets den Titel in der Deutschen Turnliga der Frauen gewonnen. Teils mit Athletinnen, die nun die Zustände im Kunstturnforum in Stuttgart heftig kritisieren. Wie steht der MTV dazu?
Turnen in Stuttgart – das war bislang ein absolutes Erfolgsmodell. Im vom Schwäbischen Turnerbund betriebenen Kunstturnforum (KTF) reiften Weltklasseathletinnen und -athleten, beim jährlichen DTB-Pokal war seit 1983 stets die Weltelite zu Gast – und der MTV Stuttgart dominierte mit einer Frauenriege in den vergangenen Jahren die Deutsche Turnliga (DTL) quasi nach Belieben. Seit 2012 stellt Stuttgarts größter Sportverein nach dem VfB die Meistermannschaft. Nun aber stellt sich auch hier die Frage: Zu welchem Preis?
Seit die 17-jährige Meolie Jauch vor einigen Tagen ihren Rücktritt bekanntgab und diesen mit der mentalen Überforderung begründete, haben sich eine Reihe weiterer noch aktiver oder ehemaliger Spitzenturnerinnen via Instagram zu Wort gemeldet. Der einhellige Tenor: Die Bedingungen, unter denen die meist minderjährigen Nachwuchsturnerinnen im Stuttgarter Kunstturnforum trainiert werden, sind von psychischem Druck und körperlichen Schmerzen geprägt.
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) und der Schwäbische Turnerbund (STB) haben am Wochenende angekündigt, die zahlreichen Vorwürfe zu untersuchen, sich dabei auch externe Unterstützung zu nehmen. Den Verbänden, so hieß es in dem Statement, lägen „konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten von Seiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart“ vor. Die betreffen indirekt auch den MTV.
Denn nahezu alle Turnerinnen, die nun teilweise schockierend detailreich die Zustände am KTF beschreiben, sind in der DTL auch für den Serienmeister vom Kräherwald an die Geräte gegangen. „Wir wollen nicht, dass Sportlerinnen, die für unseren Verein antreten, unter solchen Umständen turnen und trainieren müssen“, sagt Nico Helwerth. Der Präsident des MTV sieht seinen Club „zwischen den Stühlen“. Einerseits verpflichtet der MTV die teils sehr jungen Turnerinnen für seine Riege in der ersten Liga – dort sind die sportlichen Ansprüche hoch, das zeigt die Rekordliste. Andererseits betont er, dass die Athletinnen eben nicht von Trainerinnen und Trainern des MTV betreut werden. Die Coaches am Kunstturnforum stellt der Bundesstützpunkt beziehungsweise das Landesleistungszentrum. Ist der MTV also fein raus, wenn es um die aktuellen Vorwürfe geht?
„Wir haben keinen direkten Zugriff. Aber wir stellen uns schon die Frage: Hätten wir einen Weg finden müssen, damit sich die Sportlerinnen uns früher offenbaren und anvertrauen?“, sagt Nico Helwerth: „Hätte es einen zusätzlichen Mechanismus gebraucht?“
So erfuhr man auch beim MTV erst im Nachgang des Rücktritts von Meolie Jauch von den Statements der weiteren Turnerinnen. Diese habe man dann, erklärt der Clubchef, umgehend an die Kinderschutzbeauftragte des MTV weitergeleitet. Dieses wiederum sei dann sofort auf die zuständigen Verbände – den STB und den DTB – zugegangen.
Die beiden Turnverbände wollen nun „mögliches Fehlverhalten von Trainerinnen und Trainern aber auch Fehler im Leistungssportsystem an Bundesstützpunkten“ untersuchen, vermutlich gibt es auch kurzfristige personelle Konsequenzen, da all die Vorwürfe direkt den weiblichen Spitzensportbereich des KTF betreffen. Was aber heißt das für die Zukunft des Turnens im MTV?
„Wir wollen Leistungssport“, sagt der Nico Helwerth, der jedoch betont: „Es darf nicht zulasten der Athletinnen gehen.“ Der MTV-Präsident, der auch Tennis-Schiedsrichter auf der ATP-Tour ist, fordert von den Verbänden eine „lückenlose Aufklärung“. Man dränge darauf, dass sich die Zustände ändern, sagt er und ergänzt zum Engagement seines Vereins im Spitzenturnen: „Wenn Grenzen überschritten werden, wollen wir als MTV den Weg nicht mehr mitgehen.“ Und: „Wenn nicht sichergestellt werden kann, dass die Athletinnen unter gesunden Umständen trainieren können, wollen wir das beim MTV nicht mehr machen.“
Den Club und seine Bundesligamannschaft verbindet allein durch die räumliche Nähe seit Jahren viel mit dem Kunstturnforum. „Wir haben von dieser Nähe profitiert“, sagt Nico Helwerth, „aber wir wollen nicht von etwas profitieren, das zulasten der Sportlerinnen geht.“ Leistungssport erfordere hartes Training, dessen sei man sich auch beim MTV bewusst, „aber hart trainieren darf nicht bedeuten, dass rote Linien überschritten werden“.
Für die kommende Saison in der Deutschen Turnliga hat der Club bereits wieder seine Frauenriege gemeldet, bis zum Start der Wettkämpfe vergeht aber noch einige Zeit. In der man beim MTV „sehr genau beobachten“ will, was sich bis dahin rund um das Kunstturnforum tut. Und dann neu bewerten, ob es überhaupt noch lohnenswert ist, um den 14. Titel in Folge zu kämpfen.