Tabea Alt im November 2019 – damals noch als aktive Turnerin. Foto: Baumann

Die frühere Spitzenturnerin Tabea Alt spricht über die Missstände am Stuttgarter Kunstturnforum, personelle und übergeordnete Konsequenzen – und ihr körperliches und psychisches Leid.

Der Aufruhr ist groß, die rund um den Jahreswechsel von vielen Athletinnen angeprangerten Missstände im Turnen hallen mehr denn je nach. Tabea Alt (24) fordert nun Konsequenzen – auf allen Ebenen.

 

Frau Alt, Sie haben mit vielen anderen aktiven und ehemaligen Turn-Kolleginnen mit öffentlichen Enthüllungen über die Missstände am Stuttgarter Kunstturnforum eine öffentliche Lawine losgetreten. Wie war das Feedback?

Überwältigend. Mit so einer Welle an Zuspruch habe ich nicht gerechnet. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv – und teils voller Dankbarkeit. Mir haben zum Beispiel viele Mütter geschrieben, die ihre sechs oder sieben Jahre alten Kinder in einen Sportverein geschickt haben – unabhängig vom Turnen. Sie waren froh über all unsere Stimmen. Denn wie und wo sonst könnten sie für dieses Thema sensibilisiert werden.

Dabei haben Sie selbst schon vor drei Jahren nach Ihrem Karriereende in internen Briefen an die Verantwortlichen in den Verbänden – dem Schwäbischen und Deutschen Turner-Bund – auf die Missstände aufmerksam gemacht.

Genau. Es gab daraufhin einzelne Gespräche und man hat mir dann auch mal geschrieben, dass man irgendwelche Arbeitsgruppen gebildet habe und man die Dinge aufarbeiten wolle. Ich habe mich dadurch zunächst gehört gefühlt – dann aber recht schnell den Eindruck bekommen, dass man die Sache im Sand verlaufen lässt.

Fühlen Sie sich betrogen?

Nicht direkt. Betrogen ist ein großes Wort. Aber ich dachte irgendwann schon, wollen die mich eigentlich veräppeln? Hätte man meinen damaligen Appell wirklich verstanden, dann hätten gewisse Handlungen folgen müssen. Die so auch besprochen waren.

Jetzt kam es erst durch die ganzen Enthüllungen zum öffentlichen Knall.

Ja. Ich hoffe, dass alle Beteiligten den Schuss wenigstens jetzt gehört haben. Wenn man etwas ändern will, müssen in einem Aufarbeitungsprozess endlich unabhängige Fachleute und Kontrollinstanzen her. Ansonsten fürchte ich, dass nach ein paar Alibimaßnahmen auf der Trainerebene am Ende wieder alles so bleiben wird wie vorher. Wenn ich sehe, was laut den jüngsten öffentlichen Äußerungen vieler Turnerinnen auch in den vergangenen Monaten noch alles passiert ist in Stuttgart nach meinem Brief vor drei Jahren, macht mich das wütend und enttäuscht mich maßlos. Denn geändert hat sich seit drei Jahren offenbar nichts.

Jetzt sind eine Trainerin und ein Trainer des Kunstturnforums noch bis diesen Sonntag freigestellt. Ist das richtig?

Es ist eine richtige Maßnahme. Eine. Aber kein Aufarbeitungsprozess. Man müsste nach meinem Brief von damals längst an dem Punkt sein, um die Dinge heute handfest beweisen zu können. Alles wurde nur verschleppt von den Verantwortlichen. Dabei zeigen die bisherigen Antworten und Aussagen nach den ganzen Enthüllungen der vergangenen Wochen, dass wir mit allem recht haben und die Vorkommnisse genauso geschehen sind.

Sollten die suspendierten Trainer jemals wieder diesen Job ausüben dürfen?

Ich kann nur über eine Person sprechen, die mich jahrelang betreut hat. Hier muss ich sagen, dass ich keine glaubwürdige Bereitschaft vermute, die Dinge einzusehen und sich ernsthaft ändern zu wollen. Gewisse Menschen zeigen sich nur vordergründig einsichtig – und sehen die Fehler in Wahrheit gar nicht bei sich.

Im Jahr 2020 wurden in Chemnitz ähnliche Missstände wie nun rund ums Kunstturnforum bekannt. Damals hat Ihre langjährige Heimtrainerin gegenüber unserer Redaktion betont, dass es solche Zustände in Stuttgart nicht gebe.

Das macht mich noch heute fassungslos. Entweder war das eine Lüge – oder sie nimmt es selbst nicht bewusst wahr, wie die Dinge wirklich gelaufen sind in Stuttgart. Letzteres kann ich mir nur schwer vorstellen.

Personelle Konsequenzen auf der Trainerebene sind das eine, übergeordnete Maßnahmen und Verbesserungen das andere. Was muss mit dem Blick aufs Ganze nun passieren im System Turnen?

Ein extrem wichtiger Punkt ist, dass die Kommunikation zwischen Trainern, Athleten, Ärzten, Physios und den Eltern auf Augenhöhe stattfindet. Alle müssen alles wissen und auf dem gleichen Kenntnisstand sein – vor allem, was Verletzungen angeht. Es war die Regel, dass man als junge Turnerin im Alltag sofort schikaniert wurde, wenn Trainerinnen mitbekamen, dass man sich beklagt hatte bei den Eltern. Oder auch nachdem Elterngespräche stattgefunden haben, bei denen auf die Dinge hingewiesen worden ist. Irgendwann sollte ich Verletzungen vor meinen Eltern verschweigen. Das zeigt, wie krank das System ist.

Sie und Ihre Kolleginnen haben jetzt eindrücklich geschildert, wie sie von Kindesbeinen an von Trainerinnen und Trainern erzogen wurden. Schmerzen und Verletzungen ignorieren und nicht herumjammern, das war die Ansage. So sind Sie sogar der Halle verwiesen worden, wenn Tränen flossen, bedingt durch Schmerzen oder verbale Drohungen und Erniedrigungen. Welche Schäden haben Sie selbst durch Ihre Turnkarriere davongetragen?

Viele Verletzungen, die nachweislich und von mehreren Ärzten bestätigt durch chronische Überlastung entstanden sind. Ich wurde von Trainerseite schon als Kind so erzogen, dass ich nicht auf meinen Körper hören und nicht auf Schmerzen achten soll. Ich durfte unzählige Male nicht zum Arzt und musste alles verschweigen. Eine Rückenverletzung blieb so lange unentdeckt, sodass ich heute an Arthrose leide. Mein Fuß schwillt heute regelmäßig aus dem Nichts an, ich bekomme Schmerzen und kann kaum noch gehen – das liegt daran, dass ich damals mit einem knöchernen Kapselausriss weiterturnen musste und wieder nicht zum Arzt durfte. Zudem habe ich Probleme mit der Schulter, den Ellbogen und den Handgelenken – ebenso aufgrund damals unbehandelter Verletzungen.

Wie genau wurden Sie damals von der Trainerseite aus in Stuttgart unter Druck gesetzt?

Ich wurde, als ich geweint habe, immer als Drama-Queen hingestellt, als zu schmerzsensibel – wer mich näher kennt, weiß, dass ich genau das nicht bin und noch nie war. Ich habe alles heruntergeschluckt und mich nicht getraut aufzubegehren. Die Tränen wurden dann früh zu meinem einzigen, stillen Hilferuf. Mir wurde zum Beispiel gedroht, dass man die ganze Mannschaft (MTV Stuttgart, Anm. d. Red.) vom Ligafinale 2017 abmelden müsse, wenn ich verletzungsbedingt nicht an allen Geräten antrete und ausfalle. Und mir wurde gesagt, dass die Bundestrainerin mich nicht mehr für Wettkämpfe nominiere, wenn sie mitkriegt, welche Schmerzen ich habe. Dadurch wurde meine gesundheitliche Situation aufs Spiel gesetzt, die Verletzungen nicht ernst genommen und Hilferufe der Eltern und Ärzte missachtet.

So ein Umgang und all diese Geschehnisse können einen Menschen komplett aus der Bahn werfen. Haben Sie die Dinge schon für sich verarbeiten können?

Sagen wir es so: Ich bin auf der richtigen Bahn angekommen – aber der Weg ist noch nicht zu Ende. Mir ist es zum Beispiel extrem schwergefallen, zu Menschen außerhalb meiner Familie Vertrauen aufzubauen. Trainer als meine erste Bezugsperson haben mein Vertrauen jahrelang missbraucht, das macht auch etwas mit deinem Selbstwertgefühl. Es hat lange gedauert, bis ich den Mut hatte, mich Menschen öffnen zu können. Ich lebe jetzt seit mehreren Jahren in einer Beziehung – aber es war schwierig, sich überhaupt mit sich selbst und erst recht bei anderen Menschen wieder sicher zu fühlen.

Wie oft kehren die Zeiten von damals heute noch in Ihren Alltag zurück?

Ich werde jeden Tag mit der Vergangenheit konfrontiert. Eine der Folgen des Systems, nicht wie Menschen, sondern nur wie Maschinen behandelt zu werden, ist die, dass man sich selbst nie gut genug ist. Man bleibt sein größter Kritiker. Ich erwische mich heute manchmal dabei, wie ich zu mir selbst Dinge sage, die früher Trainerinnen zu mir gesagt haben. Habe ich mal einen schlechten Tag oder es läuft nicht so recht mit dem Lernen für die Uni, dann kommen diese Wörter sofort wieder hoch.

Die Wunden scheinen also noch nicht verheilt zu sein.

Nein, das ist ein Prozess, bis die Narben dicht sind. Ich bin einfach verletzt durch diese Zeit – als ich als Turnerin fallengelassen wurde, als ich mal verletzt war oder es mal nicht so lief. Unser Wert als Athletin wurde nur am Erfolg gemessen, du warst eine Nummer – und wenn man nicht lieferte, holte man sich halt das nächste talentierte Mädchen heran. Das sind extrem toxische Zustände.

Die Sie und Ihre Kolleginnen mit Ihren Äußerungen über die besagten Missstände nun ändern wollen.

Ja. Turnen ist ein wunderbarer, traumhaft schöner Sport, das ist trotz allem die Hauptbotschaft Aber: Alles muss im Alltag mit Respekt, Schutz und auf Augenhöhe geschehen. Turnerinnen dürfen nicht kaputt gemacht werden. Die Mädels müssen vor dem geschützt werden, was uns angetan wurde – da darf es keine Ausreden mehr geben.