Die deutliche Mehrheit der ausländischen Beschäftigten übt eine qualifizierte Beschäftigung aus – und macht sich unverzichtbar am deutschen Arbeitsmarkt. Fachkräfte aus dem Ausland zieht es vor allem nach Baden-Württemberg.
In der Backstube der Bäckerei Voß werden schwäbische Brezeln auch von marokkanischer Hand aufs Blech gelegt, sobald der Teig die Brezel-Schlingmaschine verlassen hat. Sie gehören Jabri Mohammed Amine, einem schmalen, zurückhaltenden jungen Mann und unverzichtbaren Kraft für die Traditionsbäckerei in Stuttgart-Wangen. Im Juli hat der 23-Jährige, den sie hier „Momo“ rufen, seinen Gesellenbrief erhalten.
Vor gut drei Jahren hatte er sich – nach ersten Berufserfahrungen in der Heimat – direkt aus Marokko beim Ehepaar Iris und Dirk Voß beworben, nachdem schon seine Schwester bei ihnen eine Anstellung gefunden hatte. Heute fühlt er sich, wie es scheint, rundum wohl: Er lobt die kollegiale Atmosphäre und die Vielfalt von mehr als 200 Produkten. „Da kann man so viel lernen“, sagt er.
Enttäuscht von der deutschen Jugend
Das Geschäftsführerpaar ist sehr froh, ihn in ihrem 60-köpfigen Team zu haben – trotz der langwierigen und nervenaufreibenden Antragsverfahren für die Aufenthaltserlaubnis. Untergebracht haben sie den Gesellen in einem ihrer zwei Appartements direkt im Backhaus. „Wir haben Glück gehabt“, sagt Iris Voß, denn von der einheimischen Jugend ist sie eher enttäuscht. Diese körperliche Arbeit in der Backstube, noch dazu teils früh am Morgen, tue sich keiner mehr an, so ihre Erfahrung. Selbst Hauptschüler würden sich kaum noch bei ihnen bewerben.
Ohne Menschen wie Jabri geht kaum noch etwas voran am Arbeitsmarkt. Während die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von Deutschen seit 2022 leicht, aber stetig auf 29,3 Millionen (84 Prozent der Gesamtbeschäftigung) in diesem Jahr abgenommen hat, wächst die Zahl der Kräfte aus dem Ausland: auf 3,0 Millionen aus den Drittstaaten (8,6 Prozent) und 2,6 Millionen (7,4 Prozent) aus der Europäischen Union. Allerdings hat die Beschäftigung im Rahmen der EU-Freizügigkeit ihren „Kipppunkt“ erreicht, stellt die Bundesagentur für Arbeit fest, deren Werte für 2024 vorläufig sind.
Interesse an Jobs hierzulande steigt
Es gibt viele weitere Zahlen, die die Abhängigkeit unserer Wirtschaft von der Erwerbsmigration beschreiben: Zum Beispiel hat jeder sechste Beschäftigte keine deutsche Staatsangehörigkeit. Gut zwei Drittel der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus Drittstaaten üben qualifizierte Jobs aus – bei den Menschen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern (Afghanistan, Syrien, Iran, Nigeria etc.) und der Ukraine ist es jeweils gut die Hälfte.
Der Trend ist auch in Baden-Württemberg eindeutig: Ende März waren 466 929 Drittstaatsangehörige sozialversicherungspflichtig beschäftigt – 32 578 oder 7,5 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Auch stellt die Bundesagentur für Arbeit fest, dass die Beratungen von Menschen, die im Ausland leben und an einer Arbeit in Deutschland interessiert sind, im sogenannten Customer-Center zunehmen. Das lässt auf steigendes Interesse an Jobs hierzulande schließen.
„Jetzt kommt es darauf an, dass wir die Prozesse weiter optimieren“, sagt Martina Musati, die BA-Regionalchefin im Südwesten, mit Blick auf die Dauer der Anerkennungsverfahren. „Die geplante Landesagentur für Zuwanderung von Fachkräften ist hier ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung.“ Es werde für die Attraktivität des Standorts Baden-Württemberg ganz entscheidend sein, die Menschen gut zu integrieren. „Unseren Wohlstand werden wir nur mit Fachkräften aus dem Ausland sichern können“, betont sie. „Das inländische Potenzial allein wird nicht ausreichen.“
Viele Zuwanderer steuern in Dienstleistungsberufe
Die Bundesagentur für Arbeit muss nicht bei jeder Arbeitsaufnahme zustimmen – erst recht nicht im Rahmen der EU-Freizügigkeit. Doch zeigt ihre Statistik gesichert, dass es ausländische Kräfte vor allem nach Baden-Württemberg zieht. Knapp ein Fünftel aller Zustimmungen entfallen auf den Südwesten. Die meisten Fachkräfte kommen demnach aus drei Ländern: Indien, die Türkei und der Kosovo lagen 2023 fast gleichauf. Mit Abstand folgen Bosnien-Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien und Afghanistan.
Davon profitieren vor allem bestimmte Branchen: Viele Zuwanderer steuern in personenbezogene Dienstleistungsberufe, also etwa ins Gastgewerbe oder auch in Gesundheitsberufe. Mit Abstand an zweiter Stelle folgen die Produktionsberufe (Fertigungstechnik und Bau). Auch Verkehrs- und Logistikberufe üben eine Anziehungskraft aus.
„The Länd“ hat große Magnetwirkung bei Azubis
Bei den Auszubildenden ist die Magnetwirkung von „The Länd“ noch größer: Da beginnt ungefähr die Hälfte aller jungen Menschen, die nach Deutschland kommen, eine Ausbildung in Baden-Württemberg.
Droht nun die Wirtschaftskrise mit einer nachlassenden Dynamik am Arbeitsmarkt die Fachkräftezuwanderung zu bremsen? „Nach der aktuellen Faktenlage eher nicht“, erwidert die BA-Regionalchefin Musati. Die Arbeitskräftelücke, die durch das Ausscheiden der Babyboomer bis Anfang der 2030er Jahre noch schneller wachsen werde, „fällt höher aus als der konjunkturbedingte Rückgang der Arbeitskräftenachfrage“. Auch sei nach der aktuellen Qualifikations- und Berufsprojektion für Baden-Württemberg bis zum Jahr 2040 langfristig von einem steigenden Fachkräftebedarf auszugehen.
Der marokkanische Bäckergeselle „Momo“ darf also davon ausgehen, dass er hier für lange Zeit gebraucht wird. Sein aktuelles Aufenthaltsrecht währt vorerst vier Jahre. Er kann sich auf Deutsch verständigen, wird aber an seinen Sprachkenntnissen zwangsläufig noch arbeiten. Denn er ist gekommen, um zu bleiben. Zwei von vier Geschwistern leben ebenso in Deutschland – da kommen sogar familiäre Gefühle fern der Heimat auf.